Verschwunden im Transit

Von Lotta Wieden · 01.01.2009
Jedes Jahr werden allein bei den großen europäischen Fluggesellschaften rund sechs Millionen Gepäckstücke fehlgeleitet, einige wenige verschwinden sogar für immer. Um die Kundschaft nicht zu verärgern, beschäftigen alle großen Fluggesellschaften eigene Gepäckermittler.
Bei Lead Agent Sören Holms und seinen Kollegen von der Gepäckermittlung der Deutschen Lufthansa etwa rufen täglich rund 500 Reisende an - frustrierte Rentner, gestresste Familienväter, ausgebuffte Geschäftsleute. Und jeder Anrufer - ob aus Miami oder Karlsruhe - setzt ein logistisches Puzzlespiel in einer weltumspannenden Maschinerie in Gang: Die Verlustmeldungen aller von der Lufthansa und ihren Partnern angeflogenen Flughäfen werden mit den bereits eingetroffenen Fundmeldungen verglichen. 95 Prozent der Koffer können Holms und seine Kollegen auf diese Weise innerhalb von fünf Tagen ausfindig machen. Um die restlichen Fälle kümmert sich eine Spezialeinheit im Frankfurter Flughafen. Die Damen und Herren dieser Sektion dürfen einen herrenlosen Koffer auch schon mal öffnen und nach persönlichen Gegenständen durchsuchen.


"Guten Morgen, die Gepäckinformation der Deutschen Lufthansa. Mein Name ist Sören Holm, was kann ich für Sie tun?

Guten Morgen. Müller. Ich bin heute Morgen aus Teheran zurückgekommen
und mein Gepäck war nicht rechtzeitig an der Gepäckausgabe, und ich wollte jetzt mal
wissen, wann mich das jetzt erreicht. Wenn Sie mir die Referenznummer geben, dann schau ich gern mal für sie nach.

Das reicht mir schon Herr Müller, vielen Dank."


Verschwunden im Transit - Wie die Lufthansa nach vermissten Gepäckstücken sucht – Eine Reportage von Lotta Wieden


"O. k. Schwarzer Symsonite. Das Gepäckstück ist noch nicht eindeutig lokalisiert. Ich
kann Ihnen noch nicht sagen, wann es eintrifft, das ist allerdings nicht ungewöhnlich, es kann schon sein, dass das noch den Tag dauert, ja? Schönen Dank für den Anruf bei LH, schönen Tag Wiederhören. Wiederhören."


Sören Holm, 42 Jahre alt, tippt die Eckdaten des Kundengesprächs in den Computer. Der dunkelblonde Ein-Meter 90-Mann mit dem Goldring im rechten Ohr, sitzt in der dritten Etage eines Büro-und Einkaufszentrums. Vor ihm auf dem Schreibtisch liegen eine Packung Kaugummi, ein Taschenatlas, zwei Flugpläne der Lufthansa. Daneben ein schwarzer, flacher Kasten – die Telefonanlage. Holm drückt seinen Kopfhörer zurecht, biegt den Mikrofonbügel ein paar Zentimeter Richtung Kinn. Draußen vorm Fenster stehen vier Wohnklötze, dahinter blitzen die Schienenstränge der S-Bahn. Bis zum Fernsehturm kann Holm von seinem Platz aus sehen. Hier oben, über Kaufland und Löwen-Apotheke, in Berlin-Adlershof, liegt das Baggage-Call-Center der Deutschen Lufthansa – eine Art Telefonauskunft für Passagiere, die ihr Gepäck vermissen. 30 Mitarbeiter gehören zur Abteilung. Holm ist ihr Vorgesetzter – Lead-Agent nennen sie das hier.

"Ja, der Passagier ist von Teheran über Frankfurt nach Köln, und der Koffer ist dort nicht angekommen. Der hat einen Landstreckenflug hinter sich gehabt, hat dann das Gepäckstück verlustig gemeldet (lacht), ist dann nach Hause gefahren, / hat sich vielleicht kurz hingelegt oder gefrühstückt, und / dann angerufen – und war guter Dinge, muss ich sagen! Der war nicht unfreundlich, er war auch nicht genervt, er hörte sich so relativ gefasst an, und das ist auch gut so. Weil es ist auch nicht ungewöhnlich dass wir noch nichts haben. Das ist noch zu früh."



Holm schaut zur Uhr: kurz nach halb acht. Neun Kollegen gehören zur Frühschicht. Vier Mitarbeiter telefonieren, der Rest blättert in Zeitungen, füllt Kreuzworträtsel aus. Nur sechzehn Anrufer seit Dienstbeginn, um sieben Uhr, nicht viel los heute. Noch nicht, sagt Holm.

"Wenn’s zu Unregelmäßigkeiten kommt, ja – es kann irgendwo etwas sein: London – Bandausfall. Paris – irgendetwas kann passieren, wo eine relativ hohe Anzahl von Gepäckstücken stehen bleibt. Sagen wir mal 2 -3-4 Tausend, 5000, das ist ja nichts Ungewöhnliches in einem Flughafen wie Paris. Oder London – ist ja ein Moloch. Dann brennt hier die Luft, das ist klar."


"Guten Tag, Sie sind jetzt auch aus Brüssel gekommen? Wir haben also eine
Information, dass Streik ist in Brüssel und deswegen ist offensichtlich das meiste von ihrem Gepäck jetzt zurückgeblieben.
Wie lange geht das?
Wir wissen nicht wann der Streik beendet ist, wir haben die Information, dass das Gepäck erst dann ankommt, wenn der Streik beendet ist. Wo wohnen Sie denn?
In Riegel, am Kaiserstuhl, bei Freiburg."

" Vier Gepäckstücke? Müssen wir mal schauen, wie wir es mit der Zustellung machen, das werden wir dann wahrscheinlich nach Basel schicken. Aber mir kriegen ’s auf jeden Fall? Sie bekommen das, ja, ja. Sie kriegen ’s auch nach hause geschickt, also entstehen Ihnen keine Kosten oder so, ja. Ich fang mal an, das aufzunehmen."


Flughafen Frankfurt/Main – Terminal 1, Halle B. Angelika Kopera lächelt aufmunternd in zwei enttäuschte Gesichter. Die 40-Jährige Gepäckermittlerin trägt Lufthansa-Uniform: dunkelblauer Rock, dunkelblaue Bluse, darüber ein gelbes Halstuch mit blauem Kranich. Vor ihr, an einem der vier Economy-Schalter, steht ein junges Paar – zersaust, verschwitzt, dunkle Ringe unter den Augen. Die beiden kommen gerade aus Toronto, Kanada. Zwölf Stunden Flug liegen hinter ihnen, inklusive Transfer in Brüssel. Eigentlich müssen Christin Billian und Tore Stratz jetzt weiter zum Zug, Richtung Freiburg/Basel, zu Familie und Freunden. Aber ohne Gepäck?

"So, Sie können jetzt hier schon mal auf dieser Tafel schauen, wie Ihre Gepäckstücke aussehen, so ungefähr. Ich helf’ auch gleich gerne noch."

Angelika Kopera reicht dem jungen Paar eine Schautafel herüber:

"Also eins sieht so aus, ja – Nummer 22. So ein Trolley-Koffer? Welche Farbe?
Schwarz. Ist es ein bestimmter Markenname an den Sie sich erinnern?
Neee, hhmm.
Haben sie ein Namensschild dran?
Namensschild? Nein. Hm."


Sören Holm telefoniert:

"Okay, ich kümmere mich schon mal darum, ob der erste Koffer schon eingetroffen ist. - So, was fällt uns daran auf an diesem Anruf und an der Kundin? Die hatte ja schon so einen bestimmenden Klang so, die wusste genau, was sie wollte: Ich geb’ Ihnen mal meine Referenznummer …, den Namen gleich. Das sagt uns: Das ist jemand, der nicht zum ersten Mal fliegt, dieser Mensch. / Das ist ne Vielfliegerin. Da merkt man auf jeden Fall, dass sie den Umgang mit uns gewohnt ist!"


Sören Holm strahlt: Er mag Profis. Kurze Bearbeitungszeiten sind gut für die Statistik, jetzt muss er nur noch raus finden, was mit den Koffern der Vielfliegerin passiert ist:

"Moment bitte: Sie war gebucht von Miami über Paris nach Frankfurt, und bei zwei Transfers, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass irgendetwas mal nicht klappt – aus einem simplen Grund: Wenn eine Maschine mal verspätet ist, kann es sein, dass die andere das Gepäck nicht mitnimmt."


So auch in diesem Fall, das kann Holm in seinem Computer sehen. Es gibt andere Dinge, die zum Gepäckverlust führen können: Wetterumbrüche, Streiks, abgerissene Gepäcknummern – oder, noch simpler:

"Im Band hängen geblieben, ganz einfach! Es kann auch schon mal passieren, dass ein Gepäckstück, das nicht ganz richtig verschlossen ist oder sehr labil ist, möglicherweise an einer Ecke hängen geblieben ist, dann aus dem Gepäckprozess von den Ladern genommen wird, beiseite gestellt wird, um das nachher weiter zu verladen. Es kann passieren, dass die Zeit dann nicht mehr reicht, der Flieger dann schon weg ist, die Luken geschlossen sind. Und so bleibt auch das Gepäckstück zurück. Das kann vorkommen!"


Etwa 500 Anfragen beantworten Holm und seine Kollegen pro Tag. Tendenz steigend. Logisch, sagt Holm: Wenn immer mehr Leute immer öfter fliegen, kommt auch mehr Gepäck weg: Allein in Europa verschwinden jedes Jahr rund sechs Millionen Koffer – die meisten nur kurzfristig, 95 Prozent tauchen innerhalb der ersten fünf Tagen wieder auf. Der Rest braucht bis zu drei Monaten oder gilt als "für immer verloren gegangen". Ein Schicksal, das allein bei der Lufthansa rund 70.000 Koffer im Jahr ereilt.

Holm murmelt: "So, dann werden wir mal sehen, was passiert"


Sören Holm drückt die Entertaste, zupft an seinem Ohrring, einmal, zweimal – Fundmeldung: Die Koffer der Vielfliegerin aus Miami stehen noch in Paris, kommen voraussichtlich im Laufe des Nachmittags in Frankfurt an. Alles eine Frage der Logistik, sagt Holm.


"Also, wenn Sie überlegen, dass Lufthansa 2007 rund 62 Millionen Passagiere
transportiert hat, da kommen Sie auf eine ähnliche Gepäckmenge, so, und mit solchen
Zahlen ist es nicht möglich, manuell Gepäck zu suchen, das ist ganz klar.

Das heißt, Sie brauchen ein System, das in der Lage ist, automatisiert Fundmeldungen zu kreieren, Vergleiche herzustellen zwischen gefundenen Gepäckstücken an einem Flughafen und einer Vermisstenmeldung an einem anderen Flughafen.""


Mit genau so einem System arbeitet die Lufthansa. Und nicht nur die: Weltweit mehr als 400 Fluggesellschaften und alle großen Flughäfen benutzen das gleiche Programm. Das hat Vorteile:

"Also wenn Sie zum Beispiel eine Vermisstenmeldung abgeben und sagen: Mein Koffer ist schwarz und rund oder eckig, klein oder groß, dann sieht die Fundmeldung am anderen Ende der Welt genauso aus: Da steht dann eben nicht: Ich vermisse einen Koffer, sondern: Ich habe einen Koffer gefunden und der ist schwarz, rund/eckig, groß/klein. Und wenn dann vielleicht noch ein Namenschild dran ist, was sehr zu empfehlen ist, dann haben Sie schon eine sehr gute Chance, dass der Koffer, der ihrer ist, der irgendwo vielleicht in Nepal gefunden wurde."

Am LH-Schalter von A. Kopera: "Für die Zukunft, ganz wichtiger Tipp: Immer ein Namenschild ans Gepäck machen. Ach ich hab gedacht, das ist nicht so wichtig wegen die Nummern.
Das ist wirklich sehr wichtig, nur der Name, muss gar nicht die vollständige Adresse sein. Denn es passiert leider, dass der Gepäckanhänger abgeht. Und diese schwarzen Trolley-Koffer, wie Sie jetzt einen haben, haben einfach unheimlich viele Leute auf der Welt. Normal machen wir’s immer dran. Das ist das erste Mal, das wir’s nicht drangemacht haben, man denkt halt nichts Böses, und jetzt sind se weg.
Ich bräuchte jetzt in dem Fall noch ein zwei Angaben aus dem Inhalt, können Sie
sich daran erinnern? Irgendwas Markantes oder was vielleicht oben drauf liegt!
Bei mir sind Schuhe drin, einmal Nike und noch ne Adidas-Tasche."


Angelika Kopera tippt ein paar Inhaltsangaben in ihren Computer, tröstet das junge Paar an ihrem Schalter: Christin Billian und Tore Stratz vermissen vier Koffer: Geschenke, Souvenirs, Erinnerungen an einen Urlaub in Kanada. Hinter den beiden, an einer Absperrung, warten inzwischen zehn, fünfzehn weitere Passagiere: Teenager hocken müde auf dem Boden, eine Frau redet mahnend auf ihre Kinder ein. Neben ihr steht ein Ehepaar, sonnengebräunt, um die fünfzig. Er trägt ein gelbes Polohemd, eine Brille mit getönten Gläsern. Sie: Jeans, Sommerpulli, blond gefärbte Haare. Die beiden diskutieren kurz, dann drängen sie – vorbei an allen anderen – schnurstracks auf den Business-Schalter zu. Susanne Endres sitzt hier, eine schlanke, dunkelhaarige Frau, seit 27 Jahren arbeit sie bei der Lufthansa- Gepäckermittlung:

"Guten Morgen, kann ich Ihnen weiterhelfen? May I help you?
Mann: We lost one luggage. The luggage was found but we received it in Florence, Italy, two days after we arrived here. Frau: So, actually we are here for refund. "

Wir sind vor acht Wochen nach Italien geflogen, erklärt der Mann und schiebt zwei kroatische Pässe über den Tisch. Einer unserer Koffer kam nicht mit, er wurde uns zwei Tage später nachgeschickt. Also, unterbricht die Frau, um es kurz zumachen: Wir sind hier, weil wir ein paar Auslagen hatten, für Ersatzanschaffungen. Man hat mir gesagt, 50 Prozent davon kriegen wir wieder.

"”And they are going to reimburse me 50 %, right!?
That’s right. They re-inverse …
In case they don’t find it will be 100 %. That’s why I am here, right. ""



Susanne Endres überhört den fordernden Ton, lächelt die Reisenden freundlich an. Jeder vermisste Koffer kostet die Lufthansa um die tausend Euro, nicht nur das Nachschicken ist teuer, auch das Berliner Call-Center und die Frankfurter Gepäckermittler kosten Geld. Dazu kommt: Alle großen Fluggesellschaften sind verpflichtet, den Passagieren dringend notwendige Ersatzanschaffungen zu erstatten.

"So jetzt such ich mir diese Meldung hier raus. Also, das Gepäckstück wurde vermisst um 12.22 Uhr, ist also ganz genau festgehalten, wann dieser Vorgang erstellt wurde, und der Vorgang wurde geschlossen einen Tag später um 9.37 Uhr morgens. Also da wusste man schon ganz genau, wo das Gepäckstück ist bzw. wann es ankommt. Das Gepäckstück wurde nach Florenz geschickt, weil der Gast diese Florenz-Adresse angegeben hat, einen Tag später. Der Gast sagt jetzt, er hatte Ausgaben, da brauchen wir natürlich die Originalrechnungen dafür. Und er wurde vorab schon informiert, dass wenn ein Gepäckstück wieder gefunden wird, für Ersatzanschaffungen, sprich Kleidung, 50 Prozent erstattet werden und für Kosmetikartikel."


"You bought this in Florenz? Yes. That’s from the cab, because they could not deliver to the airport. Taxi! I had to take the Taxi to the airport in Florenz.
O.k., der Gast hat grad gesagt, die Kollegen hätten das nicht ins Hotel zustellen können, das sind 42 Euro, dann haben wir hier eine Rechnung von 71 Euro
Do you remember?

"For the cosmetics!"
- 71 Euro für eine Lacôme-Creme
Das ist natürlich die Frage, braucht man für einen Tag jetzt eine Creme für 71 Euro oder hätte man vielleicht weniger ausgeben können. Wenn die Dame diese Marke benutz, dann möchte sie die sicherlich auch anwenden, aber dann könnte man überlegen, dass man in dem Fall dann 50 Prozent erstattet, weil das dann
sicher eine relativ große Dose war."
Susanne Endres presst die Lippen aufeinander, knetet unschlüssig die Zipfel ihres gelben Halstuchs. Auf der nächsten Quittung stehen 450 Euro für eine Reisetasche, gekauft bei Gucci.

"Dann haben wir hier einmal 450 … – Here is 450 Euros?!
That’s the bag!
So you bought a new bag!???
I didn’t have anything; everything was in the luggage I lost. I was literally two days in the same outfit. And it was so hot! I didn’t have anything to chance.
And I was so upset because of that, so I don’t know what would you do?
And I didn’t plan that. We were planning to be half of the day in Florence, because I needed to go to Rom the So it was very well planed and I didn’t have anything with
me. / –I didn’t have anything
I can not appear on a picture like that I am a dentist! So I needed something representative.”"

Ich musste mir doch was Neues kaufen, sagt die Frau, ihr Mann nickt, den Blick nach unten gerichtet. Zwei Tage ohne meine Kleider! Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht? Ich bin Zahnärztin! Ich kann nicht einfach irgendwie durch die Straßen laufen, ich brauchte etwas Repräsentatives, verstehen Sie!?


"”Yeah, Yeah, I understand if you need clothes, for to chance. But. -
- But the documents and everything? Where to put the documents while I am in the town?"


Ich verstehe, dass Sie Kleidung brauchten, aber wozu denn einen neuen Koffer, will Susanne
Endres wissen. Zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine feine, senkrechte Falte. Vor Journalisten will die Lufthansa besonders kulant erscheinen. Aber wie soll Endres hier entscheiden?


"And this one? The other ones are sandals.”"


Und diese Rechnung hier, fragt sie höflich. Sandalen antwortet die Frau, Sandalen für 234 Euro.

"”For 234 Euros?
Yes, and that’s it. I was so modest!
And here is the crème, day crème, what I needed!
- O.k. , I have to clear it up with my supervisor, give me a minute.
Das ist jetzt natürlich so ein Grenzfall,

Und da möchte ich einfach noch mal abklären in wieweit da mein Vorgesetzter den Gästen entgegenkommen kann, also ich würde den jetzt persönlich nicht erstatten, zu dem Preis zumindest nicht, ja.."



Susanne Endres läuft hinter den Lufthansa-Schaltern auf eine Glasfront zu, graue Jalousien versperren den Blick ins Innere – der kleine Glaswürfel ist das Zimmer ihres Vorgesetzten. Keine hundert Meter von hier, hinter einer grauen Stahltür, liegt das zentrale Sammellager der Lufthansa. Ein halbdunkler, 500 Quadratmeter großer Raum, bis an Decke vollgestopft mit Koffern, Rucksäcken, Sporttaschen – Gepäckstücke, für die trotz weltweiter, fünftägiger Computer-Recherche noch immer kein Besitzer ermittelt werden konnte.

Peter Greiner öffnet den Deckel einer rot-schwarzen Sporttasche, ein Henkel ist abgerissen, vielleicht hing hier mal eine Gepäcknummer. Gleich wird Greiner die Tasche ausräumen, aber erst mal dreht er die Klimaanlage hoch, streift sich Handschuhe und Schürze über, beides durchsichtig, aus hauchdünner Plastikfolie. Neben ihm, am anderen Ende des Untersuchungstisches, sitzt Daniel Ortiz: weißes Hemd, schwarze Hose, um den Hals baumeln zwei Plastikausweise – einer von der Lufthansa, der andere von der Flughafengesellschaft. Etwa zwanzig Gepäckstücke untersuchen die beiden Männer pro Tag, die rot- schwarze Sporttasche ist die letzte für heute, danach: Feierabend. Peter Greiner klappt den Deckel der Sporttasche hoch, ein buntes Knäuel von Kleidern und Tüten liegt da. Es riecht muffig nach feuchter Wäsche.

"Holen wir das mal raus hier. Das sind jetzt Kinderschuhe und Windeln. Tasturgeklapper. Die Schuhe hast du schon? Die Schuhe habe ich komplett. Die Windeln hab ich. eins, zwei drei, fünf Kinderhosen …."

Greiner zieht ein Paar blaue Kindersandalen aus der Tasche, stellt sie ordentlich nebeneinander ans Tischende. Es folgen: eine Babywindel, fünf Kinderhosen, vier Kinderröcke, zwei Tüten Nüsse. Daniel Ortiz protokolliert jedes Detail, gibt Aussehen und Farbe der Fundstücke in den Computer ein, nur die Nüsse schmeißt er in einen blauen Müllsack:

"Es kommt immer mehr zum Vorschein an Nahrungsmitteln. Gerade bei Nüssen ist das ein hygienischer Grund, dass das einfach vernichtet werden muss, wenn sie nicht wirklich original verschweißt oder in Dosen sind und hier auch eine Tüte hebräischer … oder … Gummibärchen oder irgendwas in die Richtung, auch nicht original verpackt, müssen wir halt leider alles vernichten. Ärgerlich für den Passagier, wenn er seinen Koffer zurückbekommt. Aber leider müssen wir uns da an die Vorschriften halten. Und hier wieder eine Tüte Nüsse, die wandert in den Sack zur Vernichtung. Tütenknistern. Tastaturgeklapper."

Rund 10.000 Gepäckstücke pro Jahr öffnen Ortiz und seine Kollegen. Von Jagdmunition bis zum Hochzeitskleid – alles, was nur irgendwie in einen Koffer passt, ist ihnen hier schon untergekommen.


"Also jeder Lufthansa- Koffer, der weltweit irgendwo stehen bleibt, ohne abgeholt zu werden, der kommt zu uns nach Frankfurt und wird von uns geöffnet: Chicago, München, Tokio, Shanghai – alle Stationen, wo die Lufthansa hinfliegt, sind dann hier irgendwann mal vertreten."

Zehn Minuten vor Schichtwechsel: Die Sporttasche ist so gut wie leer: Auf dem Untersuchungstisch liegen vier Stapel: Kinderhosen, Kinderröcke, Kinderjacken Kinderschuhe. Noch lässt der Gepäckinhalt keinen Rückschluss auf den Eigentümer zu, aber vielleicht kommt ja in den nächsten Tagen noch eine Suchmeldung rein: Rot-schwarze Sporttasche vermisst – Inhalt: Kinderwäsche, Nüsse, Gummibärchen.

"Gepäckinformation Lufthansa, mein Name ist Sören Holm, guten Tag. Ja, Sauer. Es geht um mein Gepäckstück. Haben Sie die Referenznummer für diesen Vorgang?
LH 730889 – O.k. Ja, das Gepäck ist unterwegs, soll heute Nachmittag landen und wird dann ausgeliefert an ihre Adresse Amaliestraße … also, das ist ja absoluter Quatsch! Wenn das jetzt …
… Moment! Nicht aufregen! Ich hab mich nur verlesen in der Zeile."

Sören Holm presst die Lippen aufeinander. Er weiß, er darf sich jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen, muss konstruktiv bleiben. Und Tatsächlich, ein paar Sekunden später lenkt die die Kundin ein, das Gespräch wird freundlicher:

"Eine Telefonnummer hätt’ ich gerne bitte von Ihnen, auch vor Ort wenn’s möglich ist.
Dann müsste ich Sie gleich noch mal anrufen, kann ich Ihre Durchwahl haben?
Meine Durchwahl können Sie nicht haben, da müssten sie gleich noch die
Nummer wählen, die sei eben angerufen haben, Frau Sauer.
O.k."

O.K.?! Frau Sauer! Danke für den Anruf. Wiederhören.

Sören Holm schaut zur Uhr: Gleich kann er Pause machen, bis jetzt lief alles nach Plan, 160 Statusanfragen, die Hälfte der Fälle ist schon erledigt. – "geschlossen", wie es bei der Lufthansa heißt. Gar nicht übel, sagt Holm, auch Herr Müller aus Teheran wird seinen Koffer in ein paar Stunden bekommen.


"Der Fall ist geschlossen, das war doch der Herr Müller aus Teheran. CFI
bedeudet Closed File. So Koffer ist angekommen und wird von Frankfurt
offensichtlich aus ausgeliefert. … Gut, das war’s. "



Susanne Endres steht im Zimmer ihres Vorgesetzten, zwei Tische, zwei Telefone, zwei Computer – an der der Wand hängt eine Weltkarte. Davor sitzt Aydin Uyanik, 43 Jahre alt, Sektionsleiter der Lufthansa-Gepäckermittlung, ein sportlicher Typ mit dichtem, dunklem Haar.

" So, das ist der Herr Uyanik, das ist mein Vorgesetzter, dem zeig ich das jetzt natürlich noch mal den Vorgang. Das ist ein Paar, die Dame kam am 25., die Meldung wurde um 12 Uhr aufgenommen, am nächsten Tag bereits um 9 Uhr morgens wurde der Fall für uns abgeschlossen und auch am gleichen Tag nach Florenz zur Zustellung ins Hotel geschickt.. Die Dame sagte einmal, es war wohl nicht möglich, den ins Hotel zu bekommen, deswegen hat sie den mit dem Taxi abgeholt,"

Wortlos hört sich Uyanik die Geschichte mit den schicken Sandalen und der Lacome-Creme an, sein Blick geht an Susanne Endres vorbei, durch die Jalousien zum Business-Schalter. Er beobachtet das Paar, sieht wie der Mann im gelben Polohemd auf seine Frau einspricht.
"Diese beiden Quittungen sind jeweils vom 26. Nachmittag einmal um halb fünf, einmal um halb vier. Und dann haben wir noch um halb fünf am 26. einen Koffer bei Gucci von 450 Euro, da hätten sie gerne die Hälfte erstattet, und ich hab gesagt: Mit dem Koffer tu ich mich schwer. Uljanic: Ja, das ist richtig, der Verlust war ja knapp über anderthalb Tage und wie ich das hier erkennen kann, wurde sie auch darüber informiert, dass das Gepäck nachgeschickt wird, ich kann das jetzt auch nicht nachvollziehen, warum sie da einen Koffer gekauft hat, / Also, Koffer müssen wir leider ablehnen./ Die Dame wird jetzt ein bisschen ungehalten sein, ist sie ja eben auch schon gewesen. Jetzt schaun mer mal, was sie sagt, aber ich hoffe, dass Sie dann damit leben kann, was wir ihr auszahlen."



Susanne Endres geht zurück an ihren Platz. Noch eine fünf Minuten bis Schichtwechsel, ihre Kollegen von den Economy-Schaltern sind schon weg, auch Peter Greiner und Daniel Ortiz im zentralen Sammellager haben Feierabend.


"So I spoke with my Supervisor, we are going to pay you of course for your shoes the 50 percent, we are going to pay you the half of your crème, you get the reinforce for the taxi, 100 percent … that’s not the problem.”"


Susanne Endres blättert Quittung um Quittung auf den Tisch, die Frau mit den blond gefärbten Haaren kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, ihr Ehemann schweigt, den Blick zu Boden gerichtet.

"”… but we are not going to pay something for the suitcase. I am sorry."

Endres legt die letzte Quittung vor, schaut nach oben. Einverstanden? fragen ihre Augen.

"That’s not fair for me but I have no time to argue! - But you know if you don’t have anything to put in the bag …- It’s not about that, it’s about something different. And I was very modest; if you were me you would do the same. I could go and spend more money. Let us count… that’s the 42 for the taxi, this is 50%, so, das wären dann 219 Euros and 50 Cent. Geldkasse ist zu hören! Geldübergabe."


Noch einmal geht es hin und her, dann nimmt die Frau das Geld, steckt 219 Euro und 50 Cent in ihr Portemonnaie. Sekunden später sind die beiden unterwegs Richtung Ausgang. Susanne Endres schaut ihnen einen Moment lang nach, zuckt mit den Achseln. Sie nimmt ihr Namenschild vom Tisch. Schluss für heute.

"Tschüß"