Verschwörungstheorien

Wenn Aberglaube Halt gibt

04:20 Minuten
Ein junger Mann steht mit Alubrille und einer mit Alufolie umwickelten Hand auf einem Feld.
Ein richtiger Alu-Hut wäre natürlich besser, da sind sich Verschwörungstheoretiker sicher. © Eyeem/ Marcel
Ein Einwurf von Florian Goldberg · 20.02.2020
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Man braucht nur einen Blick ins Netz zu werfen, um festzustellen, sie lauern überall: Verschwörungstheorien. Aber nicht nur dort, auch im Alltag trifft man immer wieder auf kuriose Welterklärmodelle, hat unser Autor Florian Goldberg festgestellt.
Verschwörungstheorien treiben seit geraumer Zeit die erstaunlichsten Blüten. Von klassischen "Chemtrails" über die AfD-nahe "Umvolkung" bis hin zu diesem unsäglichen Reptiloiden-Schmarrn, der besagt, Regierungsoberhäupter wie weiland George Bush oder aktuell Angela Merkel stünden unter der Kontrolle außerirdischer Echsenwesen.
Nichts ist verschroben genug, um dank gnädiger Algorithmen nicht bald ein weltweites Publikum zu finden.
Eine Reihe soziologischer Studien beschäftigt sich mit dem Phänomen: Was bringt Menschen dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben?
Die häufigsten Stichworte: Komplexitätsreduktion - also der Versuch, eine vielgestaltige Wirklichkeit auf einen überschaubaren Nenner zu bringen. Soziale Unsicherheit - prekäre Verhältnisse machten anfälliger als ein gesicherter sozialer Status. Identitätsstiftung - das heißt die Möglichkeit, sich aus der Masse vermeintlich Ahnungsloser positiv abzuheben.

Verstörende Barcodes

Wahrscheinlich hat jede mindestens einen Bekannten, der an die ein oder andere Absonderlichkeit glaubt. So wurde mir vor einigen Wochen nahegelegt, Barcodes auf Lebensmitteletiketten durch einen Querstrich zu "entstören", da sie die Nährstoffe negativ beeinflussten.
Mit ernster Miene wurde ein Filzstift aus der Tasche gezogen und mein Müsliriegel "energetisch neutralisiert". Dass hinter diesem seltsamen Gebaren eine ganze öko-esoterische Szene steckt, begriff ich erst später.
Nun wäre es zu einfach, Verschwörungstheoretiker als marginalisierte Menschen mit mangelhafter Bildung und Allmachtsfantasien abzutun. Das Problem liegt tiefer und betrifft uns wahrscheinlich alle. Am Ende hat es wohl damit zu tun, dass sich die Kinderfragen unserer Existenz trotz allen Forschens und Wissens nie abschließend beantworten lassen: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir?

Halt statt Wahrheit

Wir stehen, philosophisch gesehen, auf sehr dünnem Boden. Darunter: nichts. Zumindest nichts Greifbares. Das auszuhalten, ist keine Kleinigkeit. "Die meisten Menschen", sagt Karl Jaspers, "suchen nicht nach der Wahrheit, sondern nach einem Halt."
Dieser Halt kann ein religiöser Glaube sein, eine politische Überzeugung oder eben eine Verschwörungstheorie. Wer sich einmal der Mühe einer redlichen Bestandsaufnahme seiner Weltsicht unterzieht, stellt überrascht fest, wie viele ungeprüfte und unbewiesene Behauptungen sich dort eingenistet haben. Sie wieder los zu werden, ist gar nicht so einfach. Unser Verstand, das ist längst eine Binse, will immer recht haben.
Bei Ihnen ist das nicht so? - Schon klar...

Männer sind verschwörungsaffin

Um noch einmal auf die Verschwörungstheorien zurückzukommen, betonen die erwähnten Studien übrigens auch, dass deutlich mehr Männer als Frauen zu ihnen neigen.
Also wieder die Männer! Scheint es nicht, als würden sie heutzutage systematisch schlecht gemacht? - Ich hätte da so eine Theorie: Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum im letzten Jahrzehnt zunehmend Populisten wie Orban, Trump und Bolsonaro auf der politischen Bühne erschienen sind?
Rechte US-Milliardäre? Cambridge Analytica? Mitnichten! Dahinter steckt ein weltweiter Geheimbund radikaler Feministinnen, der sich zur Aufgabe gemacht hat, überall möglichst korrupte Männer in Regierungsämter zu hieven.
Durch deren Narzissmus, so das perfide Kalkül, zerbrechen bewährte Bündnisse, drohen neue Kriege und geraten selbst stabile Demokratien ins Wanken. Mit einem Mal begreift die Menschheit, was toxische Männlichkeit bewirkt. Entsetzt wendet sie sich von männlichen Führern ab. Fortan werden verantwortliche Positionen nur noch mit Frauen besetzt. Ihr geheimes Zeichen? Die Raute. Wehrt euch, ihr Männer, es hat schon begonnen!
Ist natürlich Quatsch. Leider. Hinter dem aktuellen Populismus steckt wie hinter allen anderen politischen und gesellschaftlichen Seltsamkeiten keine übermächtige, verschlagene Intelligenz, die alles zentral steuerte, sondern die einzige Konstante, auf die bei unserer Spezies seit jeher Verlass ist: Eine unerschütterliche Dummheit.

Florian Goldberg, geboren 1962, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht.

Der Autor, Coach und philosophische Berater Florian Goldberg.
© privat
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