Verschlossene Bücher

Von Tobias Wenzel |
Der chinesische Dichter Bei Dao gehört zu den kritischen Geistern seines Landes, den die Partei nicht aus den Augen lässt. Bis 2002 durfte er nicht mehr ins Land einreisen. Heute lebt er in Hongkong und wird dort vom Regime bespitzelt. In Deutschland ist er gerade auf Lesereise.
"Für Vater

In der kalten Februarfrühe
eignet den Eichen letztlich das Maß der Trauer
Vater, vor deinem Bild
hütet allfälliger Wind die Ruhe des runden Tisches

Von der Kindheit her betrachtet
war, was ich sah, stets dein Rücken
Du hütetest schwarze Wolken und Schafe
längs des Weges, der zu den Monarchen führte

[…]"

Bei Dao, ein schlanker Mann mit runder Brille, dem man seine 60 Jahre nicht ansieht, sitzt im Frühstücksraum seines Münchner Hotels und liest eines der Gedichte, die nun in deutscher Übersetzung in dem Band "Das Buch der Niederlage" erschienen sind. Ein sehr persönliches Gedicht, das er nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2003 schrieb.

Hermetisch, obskur, mit Begriffen wie diesen werden die Gedichte von Bei Dao immer wieder bedacht. Vieles bleibt nur angedeutet. Und manchmal, wenn man glaubt, ein Gedicht Bei Daos ganz erfasst zu haben, sorgt ein paradoxer Vers für Verwirrung. Nebeldichtung nennen Literaturwissenschaftler diese Lyrik. Zur Verwunderung des Autors:

"Ich schreibe nicht bewusst nebulös. Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass meine Gedichte äußerst klar sind. Meine Gedichte bestehen aus mehreren Schichten, die ich auf komplizierte Weise angehäuft habe. Den heutigen Lesern fehlt manchmal die Geduld, um nicht nur den Schlüssel für das erste Tor zu finden, sondern auch den Schlüssel für das zweite Tor. Die meisten kommen nur bis zum ersten Tor."

Andere scheinen den Schlüssel zum zweiten Tor gefunden zu haben. Schließlich sehen manche Sinologen in Bei Dao den führenden Dichter Chinas und einen nobelpreiswürdigen dazu.

Bei Dao wurde 1949 in Peking als Zhao Zhenkai geboren. Seine ersten Gedichte schrieb er Anfang der 70er-Jahre, also noch während der Kulturrevolution. 1978 gründete Bei Dao die Literaturzeitschrift "Jintian" ("Heute"), musste sie aber schon zwei Jahre später auf Druck der Machthaber einstellen. Als am 4. Juni 1989 die Regierung die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig beendete, war Bei Dao gerade als Stipendiat in Berlin - und konnte nicht mehr nach China zurückkehren. Er fürchtete, verhaftet zu werden. Er nahm Gastdozenturen in England, Dänemark und den USA an. Er, der Exilant wider Willen, er, der Dichter, dessen Verse sie unter anderem am 4. Juni 1989 skandiert hatten:

"Ich war erschüttert. Ich erinnere mich noch, wie ich die Ereignisse am 4. Juni 1989 im Fernsehen verfolgt habe. Ich war an dem Abend vollkommen betrunken. Und am nächsten Tag traf ich mich mit Freunden, um den Schmerz zu teilen. Bis heute löst die Erinnerung daran einen tiefen Schmerz in mir aus."

Als Bei Dao 2005 in Seoul Journalisten über den 4. Juni 1989 Auskunft gab, erfährt man aus Wolfgang Kubins Nachwort zum neuen Gedichtband Bei Daos, führte diese Tatsache wohl auch dazu, dass Bei Dao bis heute nicht mehr nach China einreisen darf. Zwischen 2001 und 2003 durfte er seine Mutter, seine Frau und sein Kind besuchen, wenn auch unter ständiger Beobachtung. Und es war ihm noch erlaubt worden, von seinem im Sterben liegenden Vater in Peking Abschied zu nehmen.

In Bei Daos Elternhaus gab es zwei Arten von Büchern: offen zugängliche, darunter Bücher von Mao und Marx, und in einem Oberschrank versteckte. Für die letzteren begann sich Bei Dao schon mit sieben Jahren zu interessieren, kletterte immer wieder auf einen Stuhl und stürzte. Lesen assoziierte Bei Dao lange mit Schmerzen.

"Mein Vater kam mir zwar auf die Schliche und hat den Oberschrank abgeschlossen. Aber ich fand den Schlüssel. Und wenn mein Vater im Dienst war, holte ich die Bücher aus dem Schrank, las darin und schloss sie wieder ein, bevor mein Vater zurückkam. Mein Vater war ein Literaturliebhaber, wollte aber auf keinen Fall, dass ich Schriftsteller werde. Als ich ihm einmal eines meiner ersten Gedichte zeigte, stand ihm der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Er hat das Gedicht sofort verbrannt, weil er fürchtete, man könnte es als Kritik an der Kulturrevolution lesen."

Wahrscheinlich wollte der Vater Bei Dao vor dem bewahren, was nun eingetreten ist: dass sein Sohn seine eigene Familie nicht mehr sehen darf. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass er sich nie als IM hat anwerben lassen. Dafür stehen nun die Inoffiziellen Mitarbeiter der chinesischen Regierung vor seiner Tür, und zwar in Hongkong, wo der Dichter heute lebt und an der Chinese University kreatives Schreiben unterrichtet. In den letzten zehn Jahren allerdings hatte Bei Dao eine regelrechte Schreibhemmung. So versuchte er sich stattdessen in der Prosa und schrieb viel gelobte Essays. Deshalb sind in seinem aktuellen, auf Deutsch vorliegenden Lyrikband nur 15 neue Gedichte enthalten. Darunter das mit dem Titel "Für Vater":

"[...]

Der lichte Morgen betritt wie ein Clown die Bühne
Flammen wechseln das Bettlaken für dich
wo die Uhren stehenbleiben
saust das Wurfeisen der Zeit vorbei"

Service:

Bei Dao liest am 8.12.2009 in Bonn, am 9.12.2009 in Heidelberg und am 10.12.2009 in Frankfurt. Sein Gedichtband "Das Buch der Niederlage" wurde von Wolfgang Kubin ins Deutsche übertragen und ist im Hanser Verlag erschienen.