Verschenkte Kindheit

30.04.2010
Da ihre Mutter kein Geld hatte, wuchs Maria bei einer Fremden auf. Sie ist eine "fill'e anima", ein "Seelenkind" - auf Sardinien keine Seltenheit. Autorin Michela Murgia kommt aus ebensolchen Verhältnissen und beschreibt Marias Schicksal mit bildhafter Sprache.
Sie heißt Maria und ist eine "fill’e anima", ein "Seelenkind". Ihre leibliche Mutter hat aus wirtschaftlicher Not auf die jüngste von vier Töchtern verzichtet und sie einer anderen Frau aus dem Dorf überlassen, der alten Tzia Bonaria Urrai, Schneiderin und kinderlos. Seit jeher gab es auf Sardinien diese Form der Adoption; und für die sechsjährige Maria, Ich-Erzählerin und Heldin in Michela Murgias Roman "Accabadora", ist die neue Lage ein Gewinn. Mit sicherem Gespür für die Exotik sardischer Sitten entfaltet die Schriftstellerin Michela Murgia das Schicksal ihrer Protagonistin. Sie tut es nach dem Muster der mündlichen Erzählung mit vielen Wiederholungen, Elementen aus Legenden und einer bildhaften Sprache. Murgia, 1972 in Cabras geboren und selbst eine "fill’e anima", verlagert die Handlung ihres Romans in die 50er-Jahre, als das archaische Sardinien durch das italienische Wirtschaftswunder einen Modernisierungsschub erhielt und die verschiedenen Welten besonders harsch aufeinander prallten.

Der kleinen Maria gefällt es bei ihrer Ziehmutter. Tzia Bonaria ist warmherzig, bringt ihr das Nähen bei und bestärkt sie in ihrer Lust an der Schule. Allerdings scheint die Tzia – das sardische Wort für Tante – ein dunkles Geheimnis zu haben, denn mitunter verlässt sie nachts das Haus. Was es damit auf sich hat, stellt sich erst heraus, als etliche Jahre später im Dorf ein Unglück passiert. Die Familie von Marias Schulfreund Andría muss einen Betrug hinnehmen: Ein Nachbar hat heimlich eine Trockenmauer verlegt und ihnen so einen Teil des Weinbergs abspenstig gemacht. Der kämpferische ältere Bruder Nicola erträgt die Duldsamkeit seines Vaters eines Tages nicht mehr, legt aus Rache Feuer – und wird im nächsten Moment von einer Kugel niedergestreckt. Zwar überlebt er die Attacke, verliert aber ein Bein und wendet sich, innerlich zerbrochen, an Tzia Bonnaria. Denn sie ist eine "Accabadora", jemand, der Menschen im Todeskampf Sterbehilfe leistet. Als der mittlerweile fast erwachsenen Maria die Aufgabe der Tzia zu Ohren kommt, packt sie ihre Koffer, geht nach Turin und kehrt erst zwei Jahre später wieder zurück.

Michela Murgia legt mit "Accabadora" eine sehr eigenwillige Variante des Entwicklungsromans mit einem anthropologischen Untergrund vor. Denn seine starke Atmosphäre bezieht "Accabadora" gerade aus den archaischen Sitten und Gebräuchen – die Sarden scheinen einen ursprünglicheren Zugang zu Leben, Tod und Leid zu haben. Zugleich vermittelt sich die Funktion des Matriarchats. Immer wieder findet Murgia eindringliche Bilder: Ein Spiegel wacht wie ein Zyklopenauge über das Zimmer, wie schwarze Blütenblätter legen sich die traditionellen sardischen Röcke um die Frauen, und wenn Tzia Bonaria bei ihren Kunden Maß nimmt, tanzt sie wie eine Spinne um sie herum. Etwas schwächer, und mit einigen kitschnahen Redewendungen ausgestattet, ist nur die Passage, die in Turin spielt. Mit "Accabadora" fügt sich Murgia in eine kleine Renaissance der sardischen Literatur ein: Nicht nur die auflagenstarke Milena Agus, sondern auch Marcello Fois, Salvatore Niffoi und Flavio Soriga vermitteln in ihren Büchern die Eigenarten dieser Region. In Zeiten der Globalisierung, die eine allgemeine Einebnung zur Folge hat, haben derartige Geschichten Hochkonjunktur.

Besprochen von Maike Albath

Michela Murgia, Accabadora
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2010
173 Seiten, 17,90 Euro