Sorj Chalandon: "Verräterkind"

Suche nach der tieferen Wahrheit

05:24 Minuten
Cover von Sorj Chalandons Roman "Verräterkind". Es zeigt den unscharfen Ausschnitt einer Uniform.
© dtv

Sorj Chalandon

Aus dem Französischen von Brigitte Große

Verräterkinddtv, München 2022

304 Seiten

24,00 Euro

Von Dina Netz · 17.11.2022
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War sein Vater nun in der Résistance oder bei der SS? Der Ich-Erzähler in Sorj Chalandons neuem Roman arbeitet sich an den Taten seines Vaters im Zweiten Weltkrieg ab und entdeckt immer mehr Ungereimtheiten. Es geht um Verrat, Schuld und Verdrängung.
Der französische Schriftsteller und Journalist Sorj Chalandon widmet sein neues Buch seiner Verlegerin Martine Boutang, "die mich seit 2005 von Roman zu Roman auf dem schwierigen Weg zu meinem Vater, meinem ersten Verräter, begleitete". Große Worte, die man versteht, wenn man realisiert, in wie vielen Romanen Chalandon bereits um (s)einen Vater kreiste, in "Die Legende unserer Väter" und "Mein fremder Vater" beispielsweise.
In "Verräterkind" nun macht Chalandon der Vaterfigur den Prozess. So wie 1987 dem "Schlächter von Lyon" Klaus Barbie der Prozess gemacht wurde. Chalandon berichtete damals als Reporter aus Lyon. In "Verräterkind" greift er den Barbie-Prozess wieder auf und führt ihn parallel mit Recherchen, die der Ich-Erzähler zu seinem Vater anstellt.

Auf der falschen Seite

„Dein Vater war im Krieg auf der falschen Seite.“ Mit diesem Satz bürdet der Großvater dem zehnjährigen Ich-Erzähler eine Information auf, an der er sich lebenslang abarbeiten wird. In diesem Zusammenhang fällt auch das titelgebende Wort "Verräterkind". Vor dem Kind und Jugendlichen spielt der Vater sich als Widerstandskämpfer auf. Da er zu Gewalt neigt, wagt der Junge nicht, ihn auf die Bemerkung des Großvaters anzusprechen. Als Erwachsener, in der Erzählgegenwart, nimmt er "sein Schweigen und meine Verwirrung" nicht länger hin.

Den Krieg geschwänzt

Der Ich-Erzähler stellt den Vater zur Rede, der nun behauptet, sich der SS angeschlossen und "den Führerbunker verteidigt" zu haben. Der Sohn ist entsetzt, vermutet aber bald, dem manipulativen Vater erneut "in die Falle gegangen" zu sein.
Als er 1987 zum Barbie-Prozess nach Lyon kommt, entdeckt er in alten Familien-Unterlagen das Strafregister seines Vaters. Auch die SS-Geschichte entpuppt sich als Lüge, und um der Wahrheit endlich näher zu kommen, beschafft der Erzähler sich die Gerichtsakte. Er kommt nach der erschütternden Lektüre, die mehrere Desertionen und Seitenwechsel offenbart, zu dem Schluss: "Du hast nur den Krieg geschwänzt."

Konfrontation von privater und Weltgeschichte

Die Begegnungen von Vater und Sohn finden am Rande des Barbie-Prozesses statt. Die Konfrontation von privater und Weltgeschichte führt zwar nicht zur erhofften Annäherung. Erzählerisch setzt der Vergleich mit dem Massenmörder Klaus Barbie den Vater jedoch ins (rechte) Licht eines kleinen Lügners.
Den Reporter Sorj Chalandon merkt man diesem Roman an: Er beschreibt Situationen dicht und präzise. Man spürt die Not des Ich-Erzählers, der sich am nicht greifbaren Lügen-Vater aufreibt. "Enfant de salaud" heißt "Verräterkind" im französischen Original noch deftiger, in etwa: Kind eines Dreckskerls.
Die Widmung zu Beginn des Romans legt nahe, dass "Verräterkind" ein autofiktionaler Text sei. Zum Teil stimmt das sicher, doch am Schluss verleiht der große Romancier Sorj Chalandon seinem Roman eine überraschende Volte, die klarmacht: Er hat auch in diesem Roman wieder die Fakten verdichtet zu einer tieferen Wahrheit.
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