Vernunftrepublikaner und Herzensmonarchist

Rezensiert von Alexander Gauland |
Auf sehr unterschiedliche Weise beschäftigen sich zwei Neuerscheinungen mit dem deutschen Industriellen und Politiker Walther Rathenau (1867 bis 1922). Wolfgang Brenners Buch erzählt die Geschichte fast schnörkellos und dennoch spannend für den gebildeten Laien. Ganz anders Christian Schölzel. Hier ist ein Autor seinem Gegenstand sprachlich überhaupt nicht gewachsen.
"Von der Parteien Hass und Gunst verzerrt schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.": Schillers Diktum über Wallenstein trifft fast mehr noch als auf den Friedländer auf Walter Rathenau zu, neben Stresemann die einzige farbige Persönlichkeit in der sonst eher grauen Weimarer Nachkriegsrepublik. Und wie bei Stresemann liegen Rathenaus Wurzeln im Kaiserreich, und wie dieser war er Vernunftrepublikaner und Herzensmonarchist.

Doch anders als sein außenpolitischer Erbe war Rathenau eine schillernde Figur, eine faszinierende Mischung disparater Charakterzüge, Unternehmer und dilettierender Künstler, Jude und rassischer Antisemit, Imperialist und Anhänger des Volksstaates, Physiker und Philosoph, Konzernherr und Sozialist, glänzender Gesellschaftsmensch und depressiv Einsamer. "Ich brauche ein langes Leben. Es gibt zu viele Rollen, die ich noch nicht gespielt habe", soll er einmal gesagt haben. Am besten ist wohl immer noch das Porträt, das Robert Musil von ihm als Doktor Paul Arnheim im "Mann ohne Eigenschaften" gezeichnet hat.

Als Jude gehörte Rathenau dazu und doch nicht dazu, blieb er Fremder, der um Liebe warb ob bei Erich Ludendorff, Kanzler Joseph Wirth oder Maximilian Harden. Und so hatte alles, was er tat, einen Gran Dilettantismus an sich, so als ob er nie ganz hinter einer Sache stünde. Am Tag des Attentats schreibt einer seiner besten Freunde, Max Warburg, an seinen Bruder:

"Es ist erschütternd, weil Rathenau in dem Augenblick ermordet wurde, als er wirklich ohne jedes Nebeninteresse seine ganze Kraft hergab, um die trostlose Lage seines Landes zu bessern und fraglos im Begriffe stand, zu lernen und über seine Fehler hinauszuwachsen trachtete; er stand mir nahe, da wir sehr offen alles miteinander besprachen und so viele gemeinsame Erlebnisse uns verbanden, aber er blieb mir immer fremd in seiner Auffassung, weil er zu sehr auf die Außenwirkung hinarbeitete, zu eitel war und zu häufig seine Ansichten änderte, er hatte eine große Kombinationsgabe, aber ein ganz Großer war er doch nicht, er hatte mehr Talente als Größe, er war nicht ehrlich bis zum Äußersten und gefiel sich im Verdunkeln der Geschehnisse, anstatt Klarheit zu erstreben, es war mir körperlich direkt schmerzhaft, wenn er so dozierte und pathetisch paradoxierte, wo Einfachheit namentlich in der Jetztzeit für uns alle allein erträglich ist." (Zitiert nach Wolfgang Brenner: Walther Rathenau)

Dabei ist es durchaus fraglich, ob ausgerechnet Rapallo, der Symbolname für die deutsch-russische Annäherung, das Ereignis war, hinter dem der neue Außenminister wirklich stand. Sein politisches Ziel war die Aussöhnung mit dem Westen nicht das Bündnis der Besiegten. Doch französische Unvernunft, englisches Zögern und amerikanisches Desinteresse trieben ihn in eine Richtung, in die der Erfüllungspolitiker nicht eigentlich wollte: den intransigenten Franzosen zu beweisen, dass man die deutsche Kuh nicht schlachten könne, wenn man weiter Milch von ihr erwarte.

So bewegte er sich auf dem schmalen Grat zwischen Erfüllungspolitik und Revisionspolitik und Rapallo war eher die Folge eines kurzen Gleichgewichtsverlustes der deutschen Diplomatie, nachdem die hoffnungsvolle Kommunikation mit Lloyd George, dem britischen Premier, einen Moment gestört schien. Nicht Rapallo, sondern der Aufbau der Kriegswirtschaft zwischen 1914 und 1915 ist wohl die Leistung Rathenaus, die er mit ganzer Kraft und vollem Herzen erstrebte, ein am Ende vergebliches Bemühen. Ohne Rathenaus Organisationstalent hätte der Krieg schon 1915 mit einem Sieg der Entente geendet. Dass er die Niederlage drei Jahre hinauszögern konnte, bleibt angesichts der Millionen umsonst Gestorbenen ein schaler Triumph.

Es ist kaum verwunderlich, dass eine so schillernde Figur immer aufs neue Biographen herausgefordert hat. Kurz nach seinem Tode war es sein Freund Harry Graf Kessler, der auf eine bis heute noch gültige Weise das Lebenswerk Rathenaus gewürdigt hat. Doch nach Hitler und Auschwitz hat sich der Blick auf manche Gestalten der deutschen Geschichte verändert, auch Rathenaus Bild blieb davon nicht unberührt. Sein hegemoniales Mitteleuropakonzept war der neuen Bundesrepublik so fremd wie seine vermeintliche Russland-Nähe und die gemeinwirtschaftlich-sozialistischen Denkanstöße.

Aber auch ein Satz wie dieser löste nach Auschwitz Unbehagen aus: "Auf märkischem Sand eine asiatische Horde", so charakterisierte er seine jüdischen Glaubensgenossen in dem berühmten "Höre, Israel", dass er in Hardens Zukunft veröffentlichte. Der jüdische Selbsthass wie ihn Theodor Lessing in Maximilian Harden gefunden hatte, war auch bei Walter Rathenau virulent. Nie wieder hat er als erwachsener Mann eine Synagoge betreten. Kein Wunder, dass es zwischen ihm und Harden zeitlebens enge Verbindungen gab, die am Ende in gegenseitigen Hass und abgrundtiefe Verachtung umschlugen.

Es gibt also gute Gründe für einen neuen Blick auf diese ebenso romantische wie deutsche Erscheinung. Zwei ganz unterschiedliche Bücher sind daraus geworden.

Wolfgang Brenners Rathenau-Buch erzählt die Geschichte fast schnörkellos und dennoch spannend für den gebildeten Laien. Es ist ein Buch in der Tradition von Kesslers Rathenau, Coopers Talleyrand oder Maurois’ Disraeli. Das Schwere wird leicht analysiert und die manchmal eher krude Philosophie Rathenaus zwischen Nietzsche, Spengler, Dilthey und Simmel einsichtig erläutert. Neues erfährt man nicht, wenn man einmal von der immer wieder neuen Beleuchtung der Ereignisse, die zu Rapallo führten, absieht.

Es ist eher eine Momentaufnahme zu einem Zeitpunkt, wo die ideologischen Probleme mit Rathenau an Bedeutung verlieren, sein Antisemitismus, die neue Wirtschaftsordnung und die Sonderbeziehung zu Russland. Rathenau ist keine Chiffre mehr für politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen von heute, das macht den Blick auf ihn freier und gelassener. Brenner hat diese Chance genutzt.

Ganz anders Christian Schölzel. Sein "Rathenau ist eine Doktorarbeit von wissenschaftlicher Schwere. Der Autor hat mehr als 80 Archive konsultiert und auch die Konvolute eingesehen, die seit 1945 bis heute im Zentralen Staatsarchiv in Moskau liegen. Ein paar davon, die die außenpolitische Tätigkeit Rathenaus nach dem Ersten Weltkrieg berühren, erhielt Helmut Kohl von Präsident Jelzin zurück. Hier liegt also der fast endgültige archivgesicherte Blick auf Rathenau vor und ist dennoch eine Enttäuschung. Denn dem Autor ist es nicht gelungen, das Material so aufzubereiten, dass es lesbar wird und doch übersichtlich bleibt. Zwar wird alles dokumentiert, aber das liest sich dann so:

"Rathenau fand seinen Lebensort in einer sozialen Gruppe, deren Selbstverständnis durch ihren privilegierten Status wie auch durch die Auswirkungen einstmals weitreichender Diskriminierungen wesentlich geprägt wurde."

Oder ein paar Seiten später:
"Walter Rathenaus Brief führt zunächst zu widersprüchlichen Eindrücken, deren Gesamtschau erst seine Haltung zum Offiziersdasein verdeutlicht."

Und weiter:

"Wo seine Annäherung an die alten Eliten jedoch am Antisemitismus scheiterte, strebte er den paritätischen Schutz eines säkularisierten Staatsbürgertums mittels liberaler Rechtsstaatlichkeit an."

Und zu Rathenaus Geschichtsphilosophie bemerkt der Autor:

"Mit der Entwicklung seiner Geschichtsphilosophie, die auf dem Antagonismus zweier Konstrukte von Menschentypen beruhte, versuchte er diesen Widerspruch aufzulösen. In dem Furchtmensch und Mutmensch gänzlich seiner Definitionsmacht unterlagen, wurde es ihm theoretisch möglich, den inhaltlichen, das heißt system-logischen Widerspruch seines Akkulturationsgebotes und angeblicher Unveränderlichkeit der Rasseeigenschaften zu überwinden."

Und so weiter und so weiter.

Es ist schade, dass ein Schriftsteller und Ästhet hier einen Autor gefunden hat, der seinem Gegenstand sprachlich so überhaupt nicht gewachsen ist. Doch auch wenn man diesen Sprachmüll durchdrungen hat, bleibt die Erkenntnis, dass Rathenau wohl weniger Geheimnisse mit ins Grab genommen hat als seine geheimnisvolle Persönlichkeit vermuten ließen. Trotz mancher neuen Quellen, das meiste wusste schon Harry Graf Kessler auch wenn er nicht alles öffentlich machte. Wahrscheinlich versteht ein Ästhet den anderen eben intuitiv besser als es ein noch so eifriges Aktenstudium vermag. Oder um es mit Rathenau zu sagen: Mutmenschen arbeiten wirkungsvoller als Furchtmenschen.


Wolfgang Brenner: Walther Rathenau. Deutscher und Jude
Piper Verlag, München 2005

Christian Schölzel: Walther Rathenau. Eine Biographie
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005