"Vermittlungsfigur zwischen zwei Stadien der Moderne"

Martin Sarbrow im Gespräch mit Britta Bürger · 22.06.2012
Die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau im Juni 1922 sei Teil eines Versuchs gewesen, die junge Weimarer Republik in einen Bürgerkrieg zu stürzen, sagt der Historiker Martin Sabrow: Sein Eintreten für die Zivilgesellschaft habe er letztlich mit dem Leben bezahlt.
Britta Bürger: Unter den Bankiers gilt Walther Rathenau als halber Schriftsteller, unter den Schriftstellern als halber Bankier. Diese knappe Charakterisierung durch seinen Freund Karl Fürstenberg beschreibt, was Walther Rathenau selbst immer wieder als problematisch empfunden hat: seine, wie er es nannte, Vielspältigkeit, sein Doppeldasein. Der Historiker Martin Sarbrow hat, wenn ich das so sagen darf, Jahre seines Lebens mit Walther Rathenau verbracht. Schönen guten Morgen, Herr Sarbrow!

Martin Sabrow: Ja, guten Morgen!

Bürger: Was hat Sie selbst eigentlich immer wieder zu Rathenau zurückgebracht?

Sabrow: Na ja, das ist in der Tat zum einen diese Zwiespältigkeit, die Rathenau als Teil der Moderne und in mancher Hinsicht, auch aus unserer Sicht, als Teil vor der Hochmoderne in seiner Biografie darstellt, das, was wir als Zwiespältigkeit in seinem Wesen deuten als Doppelnatur. Dass er einerseits eben Industrieller war, auf der anderen Seite Literat, Philosoph, Zeitphilosoph war; dass er Unternehmer war und Politiker; dass er Sozialisierungsgedanken hegte und gleichzeitig als Präsident der AEG eine der führenden Industriellen war; dass er Teil der Elite war, als Jude aber zugleich auch als sozialer Paria in Teilen der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt wurde; dass er zeitweilig sehr zum Kaiser hielt und Teil der Wilhelminischen Netzwerke gewesen ist und auf der anderen Seite sich dann als Demokrat profiliert hat – all dieses macht seine Widersprüchlichkeit aus. Aber ich muss einschränkend hinzufügen: Ich habe mich zumindest zunächst ja vor allem mit dem Tod Rathenaus jetzt vor 90 Jahren, mit seiner Ermordung beschäftigt.

Bürger: Am Sonntag ist es 90 Jahre her, dass er von antisemitischen Attentätern ermordet wurde – damals war er 55 Jahre alt – im offenen Wagen, in der Nähe seiner Wohnung in Berlin-Halensee. Hat dieser politische Mord dazu geführt, dass Rathenau zum Mythos geworden ist oder hat er selbst schon zu Lebzeiten fleißig mitgearbeitet an der Mythenbildung?

Sabrow: Na ja, das Bild von Rathenau, also die Art, wie man Rathenau erzählt und biografisch erlebt hat, hat sich in der Tat schon im Ersten Weltkrieg dargestellt und dann auch nach Ende des Ersten Weltkrieges. Aber erst mit seiner Ermordung gewinnt das Bild Züge dessen, was Sie mythisch nennen, wird zu einem umkämpften Erinnerungsort, zu einem umkämpften politischen Symbol auch, das dann in der Geschichte der beiden deutschen Staaten und vor allem der Bundesrepublik wiederum als Referenz dient.

Zum einen im Osten für die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, aus der, wie man in der DDR sagte, wie Albert Norden sagte, Rathenau schon herausragt aus der kapitalistischen in eine sozialistische Ordnung. Auf der anderen Seite und geschichtsmächtiger; in der Bundesrepublik, wurde Rathenau zum Kronzeugen, zum Blutzeugen, zum Märtyrer wenn Sie so wollen totalitärer Herrschaft und ihrer Bemächtigung des Menschen im Interesse einer mordenden Idee.

Bürger: Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Martin Sabrow, denn am Sonntag ist es 90 Jahre her, dass einer der schillerndsten Personen der Weimarer Republik ermordet wurde, Walther Rathenau. Es war ein politischer Mord der extrem Rechten an einem liberalen Politiker, und ein antisemitisch motivierter Mord an einem einflussreichen Juden. Herr Sabrow, war sich Rathenau seiner Lebensgefahr eigentlich bewusst?

Sabrow: Auch das ist eine Frage, die jetzt sehr unterschiedlich beantwortet wird, je nachdem, welcher Rathenau-Erzählung man eigentlich folgt. Und da gibt es die eine Rathenau-Erzählung des heroischen Märtyrers, der sich dieser Gefahr wohl bewusst war, der gedankenschwer den Arm auf die Schulter seines Reichskanzlers Wirth legen konnte und sagen konnte gegenüber all den Warnungen, es ist nichts, lieber Herr Wirth, wer sollte mir denn etwas tun, aber andererseits genau ahnte, dass sein Leben gefährdet war. Ich bin nicht sicher, inwieweit sich Rathenau gefährdet gefunden hat.

Auf der anderen Seite war die akute Bedrohungsgefahr für ihn vielleicht auch nicht so hoch wie man das im Nachhinein eigentlich denken möchte, denn Rathenau wurde, entgegen einer landläufigen Meinung, nicht primär ermordet, weil er Jude war, sondern weil er Teil eines politischen, oder weil er Opfer eines politischen Komplotts gewesen ist, das sich sehr viel weiter erstreckte als nur auf die mörderische Ausschaltung eines verhassten Juden.

Es ging um die deutsche Gegenrevolution, es ging darum, mithilfe der gezielten Tötung von prominenten Figuren einen Bürgerkrieg in Deutschland zu initiieren, anzustacheln, in dem dann die Reichswehr nicht mehr so tatenlos, untätig, neutral stehen könnte, wie sie das vom Kapp-Putsch aus Sicht der Hintermänner dieses Mordes gewesen ist. Und es zieht sich eine Kette von Putschversuchen, von gegenrevolutionären Versuchen vom Kapp-Putsch bis zum sogenannten Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, und die Ermordung von Rathenau und das Attentat auf Philipp Scheidemann – der kein Jude war – wenige Wochen zuvor sind Teil dieses gemeinsamen Komplotts zur Verschwörung gegen die Republik.

Bürger: Sie haben jetzt schon sehr, sehr viele Gegensätze innerhalb der Person Walther Rathenau beschrieben. Über seinen Vater war er in das Industriellenmilieu hineingewachsen, zugleich war er aber eben auch ein Intellektueller mit Bezug zu bildender Kunst, zu Literatur, er war ein Cousin von Max Liebermann, förderte als Kunstsammler die Berliner Sezession. War dieses Doppeldasein denn eine Bereicherung auch, oder war er eben vor allem doch ein zerrissener Mensch?

Sabrow: Wer will das gewichten? Wir Heutigen lesen es als einen ungeheuren Reichtum, oft sogar ganz verschwenderisch, der sich in so vielem zeigte, im Eigenbau zum Beispiel seines Hauses in Berlin-Grunewald in preußisch-klassizistischem Stil, im Erwerb und der Renovierung von Schloss Freienwalde, das er im Stil dieses Klassizismus wieder herrichten ließ, ein steinerner Protest gegen den Wilhelminismus und seines Neobarock, wie wir ihn in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder im Berliner Dom von Raschdorff etwa als Gegenprogramm erkennen können.

Also eine unglaublich reichhaltige und vielseitige Person, die möglicherweise im Privatleben eher etwas verarmt war, aber doch in ihrer Person so etwas wie die Sublimierung eines empfundenen Ausschlusses aus der bürgerlichen Gesellschaft wegen der jüdischen Herkunft darstellte. Dieser fast verzweifelte Versuch, durch ein besonderes Maß an Leistung, an Fähigkeit, auch an der Bereitschaft, auf unterschiedlichen Gebieten als Intellektueller auch zu dilettieren sogar – all dieses ist der dann auch schriftlich formulierte Protest, und in gewisser Weise ist Rathenaus Leben dann auch so etwas wie ein politisches Emanzipationsprogramm gewesen, das mit einer sehr starken Akkulturation, wie wir das nennen, Assimilation natürlich auch, einherging.

Bürger: Es wurde mehrfach spekuliert, ob Rathenau, der nie verheiratet war, möglicherweise homosexuell war. Als Indiz dafür wird seine Nähe zu deutschnationalen männerbündischen Kreisen angeführt. Halten Sie das für plausibel?

Sabrow: Nein, durchaus nicht. Also Rathenaus sexuelle Orientierung ist in der Tat nicht genau bekannt. Es gibt auch die Möglichkeit der sublimierten Sexualität, die eben gar nicht sich auslebte, auch vielleicht eine gewisse Unfähigkeit, innere Bindungen, tiefere Bindungen einzugehen, verbunden mit einer Bereitschaft, sehr schnell sehr oberflächlich sich eigentlich verbunden zu fühlen. Aber all das würde ich trennen von jener Fama einer Nähe zu deutschnationalen Männerbünden. Nein, das hat es glaube ich nicht gegeben und das würde ich sagen ist Teil der typischen nachträglichen Mythisierung von Persönlichkeiten.

Bürger: Aus all diesen Aspekten, die wir jetzt berührt haben, wird deutlich, dass Walther Rathenau zur Bildung vieler Mythen taugt. Seine Biografie ist eine Fläche für höchst unterschiedliche Projektionen. Sozialisten können ihn ebenso für sich vereinnahmen wie Kapitalisten, selbst für die europäische Idee musste er schon herhalten. Wie kommt es aber, dass diese doch so grundverschiedenen Lager alle etwas Positives in ihm finden?

Sabrow: Na ja, das heutige sehr positive Bild wurde nicht von allen geteilt. Wenn wir an die Zeit der Weimarer Republik denken, ist Rathenau tatsächlich nur das Leitbild der immer kleiner werdenden republikanischen Gruppe. Zu seinen Todestagen ab 1923, also der erste Todestag, bis 1932 kommen die Politiker, aber sie kommen in abnehmender Zahl. Und für die Trauerfeier 1932 legt das Kabinett fest, dass selbstverständlich kein Mitglied der Reichsregierung an seinem Grab oder an der Mordstelle noch erscheinen werde. Insoweit ist das mit der Zustimmung ein bisschen ambivalent.

Es geht dann eher um die Zeit der Bundesrepublik, und da ist es vor allem die antitotalitäre Klammer, die Rathenau zu einer wichtigen Bezugsperson macht, um zu zeigen, dass hier schon sehr, sehr früh die schrecklichen Folgen totalitärer Herrschaft, menschlicher und politischer Intoleranz sichtbar wurden. Das glaube ich macht sein sehr positives Bild aus, daneben auch natürlich die Möglichkeit, dass man mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen an Rathenau anknüpfen kann: Man kann Prognosen bei ihm lesen, die von hinreißender Genauigkeit sind.

Ein Mann, der 1919 prognostiziert, dass nach einem weiteren Krieg ein Teil Deutschlands, der preußische Teil, dem Bolschewismus anheim fallen werde, ist eine dieser Prognosen, und es gibt andere Prognosen, die sind so gnadenlos daneben, sind von einer seltsamen Weise der Luxusfeindlichkeit gekennzeichnet, die man dann vielleicht weniger stark beurteilt. Oder es gibt Urteile über die Nachhaltigkeit, Äußerungen von Rathenau über die Nachhaltigkeit, die ökologische Nachhaltigkeit, die wir leben müssten. Das scheint dann sehr modern zu sein und erlaubt individuelle Anknüpfungspunkte.

Das Entscheidende aber ist, dass Rathenau ein Bindeglied, eine Vermittlungsfigur zwischen zwei Stadien der Moderne darstellt, und er ist eine Persönlichkeit in der Zauberstelle, wo sich der Weg Deutschlands und auch Europas in gewisser Weise im 20. Jahrhundert entschieden hat. Ist es ein Weg, der über Feuer und Krieg und Untergang ging – und das ist er gegangen –, oder ist es ein Weg, der über Zivilgesellschaft, Emanzipation, friedlichen Ausgleich und Toleranz geht? Dafür hat Rathenau eingestanden, dafür hat er auch mit seinem Leben bezahlt.

Bürger: Der Historiker Martin Sabrow erinnerte an Walther Rathenau, der am Sonntag vor 90 Jahren ermordet wurde. Herzlichen Dank fürs Gespräch, Herr Sabrow!

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