Vermeintliche Lebensbeichte

Rezensiert von Carolin Fischer · 08.11.2005
Verrätselung ist das inhaltliche und formale Leitmotiv von Antonio Tabucchis neuem Roman "Tristano stirbt. Ein Leben". Er treibt in seinem jüngsten Werk ein intensives Spiel mit der Frage nach Wahrheit, Lüge oder Imagination. Doch das übertriebene Spiel mit Realitätsebenen zerstört den Zauber, der dieser vermeintlichen Lebensbeichte zumindest partiell innewohnt.
"…Ich habe wohl geträumt, ich habe von Tristano geträumt … oder vielleicht war es auch nur die Erinnerung an einen Traum … oder vielleicht der Traum von einer Erinnerung … oder vielleicht beides gleichzeitig … Ach, Schriftsteller, was für ein Rätsel …"

Rätsel, oder besser Verrätselung, ist das inhaltliche und formale Leitmotiv von Antonio Tabucchis neuem Roman Tristano stirbt. Ein Leben. Bereits der Name des Protagonisten verweist auf die Literatur, der Untertitel hingegen auf vermeintliche Realität:

Ein alter schwerkranker Mann, der unter großen Schmerzen im Sterben liegt, regelmäßig nach Morphium verlangt und dieses auch verabreicht bekommt, berichtet einer Person, die er stets als "Schriftsteller" anspricht und die er an sein Krankenbett zitiert hat, Episoden aus seinem Leben. Doch von berichten kann hier streng genommen keine Rede sein, vielmehr sind es scheinbar willkürlich aneinander gereihte Erinnerungsfetzen, Assoziationen, dazwischen immer wieder Rekurse auf die aktuelle Befindlichkeit: die Schmerzen, das Morphium, eine imaginäre oder vielleicht reale Fliege im Zimmer.

Tabucchi treibt in seinem jüngsten Werk ein intensives Spiel mit der Frage nach Wahrheit, Lüge oder Imagination. So wie der Leser nicht weiß, ob in Tristanos Krankenzimmer tatsächlich ein Insekt lästig brummt, so muss er sich auch aus den anderen Episoden dieses vergangenen Lebens mühsam ein höchst bruchstückhaftes Mosaik zusammensetzen.

Interessant ist dabei, dass der 1943 geborene Autor ausgerechnet den Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs als Handlungsfolie wählt, aus der er diverse Fetzen präsentiert. Aus ihnen lässt sich rekonstruieren, dass Tristano als italienischer Soldat in Griechenland einen verbündeten deutschen Soldaten erschießt, dessen Grausamkeit er nicht erträgt, von einer schönen Griechin in Sicherheit gebracht wird, in die er sich verliebt, dann in seiner Heimat im Untergrund gegen die Deutschen für die Befreiung kämpft und es zum Kommandanten einer Partisanentruppe bringt. Dort verbindet ihn eine Art Hassliebe mit einer Amerikanerin, die er zu schwängern sich weigert, die später einen Jungen adoptieren wird, den sie ihm kurz vor ihrem frühen Krebstod anvertraut.

Vielmehr als dieses Handlungsgerüst erfährt der Leser nicht. Allerdings präsentiert der Autor einzelne Szenen in verschiedener Form, vor allem lässt er den Sterbenden über die Ungeheuerlichkeiten der Sieger philosophieren, nachdem sie gegen die "Ungeheuer" gewonnen haben. Für den deutschen Leser ist es nicht ganz einfach, die Anspielungen auf die politische Entwicklung im Nachkriegsitalien zu verstehen, da sie sehr subtil eingebaut sind, so auch die mehr als knappe Episode um den Tod von Tristanos "Sohn".

Problematisch ist aber vor allem, dass Antonio Tabucchi hier offenbar noch mal einen postmodernen Roman schreiben wollte, während die Postmoderne doch schon längst abgeschlossen schien. Er ist mit Texten dieser Art als einer der "neuen Erzähler" zu einem der renommiertesten Autoren Italiens geworden, hat den Detektivroman in seinem Indischen Nachstück aufs Korn genommen und in den Letzten drei Tagen des Fernando Pessoa schon einmal den Abschied eines Menschen vom Leben literarisch gestaltet.

Doch diesmal geht ihm bei der Suche des Helden nach einer Identität seine gerühmte "leggerezza" verloren: Das übertriebene Spiel mit Realitätsebenen, – so soll der "Schriftsteller" bereits einen Roman über Tristano geschrieben haben – mit literarischen Stilen und Vorbildern, mit Assoziationen zu Filmen und Liedern erscheint leider démodé und zerstört den Zauber, der dieser vermeintlichen Lebensbeichte zumindest partiell innewohnt.

Antonio Tabucchi: Tristano stirbt. Ein Leben
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Carl Hanser Verlag 2005.
232 Seiten, € 19,90.