Vermarktlichung

Der Übergang zur Postindustrie

Die deutsche Chemieindustrie geriet in den 60er-Jahren unter Druck.
Die deutsche Chemieindustrie geriet in den 60er-Jahren unter Druck. © dpa / BASF SE / Hans-Juergen Doelger
Von Philipp Schnee  · 13.01.2016
Die postindustrielle Welt und ihre Marktmechanismen. Wann ging das los? Die Zeitschrift "Zeithistorische Forschungen" stellt in ihrer aktuellen Ausgabe eine Fallstudie vor, die zeigt, dass Unternehmen schon vor Jahrzehnten anfingen, ihr unternehmerisches Kalkül umzustellen.
Wenn sich Loriot Ende der 80er-Jahre in seinem Film Oedipussi das Innenleben eines deutschen Chemieunternehmen vorstellt, dann klingt das:
"Meine Schwester, heißt Poly-ester..."
Drollig spießig nach alter Bonner Republik-Gemütlichkeit ...
"Das ist eben Spitzenware."
Und wenig nach einem flexibel und dynamischen Unternehmen, das sich von McKinsey über Umstrukturierungen und "Rationalisierung" beraten lässt, immer am Markt orientiert, den Wettbewerb im eigenen Unternehmen anstachelnd. Das, was heute gesamtgesellschaftlich als "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" und "Vermarktlichung" diagnostiziert wird, erfasste deutsche Unternehmen am Ende des Nachkriegsbooms, in den 60er-Jahren.
Der Trier Historiker Christian Marx untersucht diese Vermarktlichung am Fall der Chemieindustrie. Die deutsche Chemieindustrie, genauer Chemiefaser-Industrie, geriet, auch durch zunehmende Konkurrenz im europäischen Wettbewerb, so unter Druck, dass "Der Spiegel" reißerisch warnte:
"Deutschen Hosen, Teppichen und Gardinen droht Überfremdung."
Die Unternehmensführungen reagierten. Externe Berater, McKinsey und Co., wurden herangezogen. Ihr wissenschaftlich-theoretisches Wissen gewann Einfluss gegenüber dem meist aus der Produktion gewonnenen, eher technisch-praktischen Erfahrungswissen der alten Unternehmenshierarchien.
Dabei räumten die Manager dem Markt im doppelten Sinne mehr Platz ein. Einerseits durch die Öffnung der Vorstandsetagen für die Unternehmensberater. Andrerseits gewann der Markt als Steuerungsprinzip an Relevanz.
Das Wissen von außen bot den in der Krise verunsicherten Managern, so Christian Marx, die "Fiktion von Beurteilungssicherheit". Aber auch, als scheinbar neutral, eine Argumentationshilfe gegenüber Belegschaft und Gewerkschaften, wenn es um Umstrukturierungen, Entlassungen und Schließungen ging.
Doch was heißt "Vermarktlichung" in Unternehmen in einer Marktwirtschaft genau? Christian Marx urteilt im Fall des von ihm intensiv untersuchten Chemiefaserunternehmens Enka:
Zitator:

"Eine gestalterische Unternehmensstrategie trat weitgehend in den Hintergrund: Die Steuerung des Unternehmens wurde zu einem wesentlichen Teil bewusst den Absatzmärkten überantwortet."
Das heißt, weniger die technologische Innovation des Ingenieurs zählt, sondern das Management reagiert auf den Markt. Und: Der Binnenwettbewerb im Unternehmen selbst wird verstärkt:
Die Unternehmen werden in kleinere Einheiten unterteilt, die sich im Wettbewerb beweisen müssen. Einzelne Abteilungen und Unternehmenszweige werden fast wie eigenständige Unternehmen im Unternehmen geführt.
Und damit wird der Wettbewerb zwischen den Unternehmensteilen im Unternehmen befördert. Unternehmen und einzelne Abteilungen von Unternehmen werden selbst gewissermaßen zu Produkten, vergleichbar am Markt über Umsatz, Gewinn und Rendite. Historiker Christian Marx folgert aus seiner Fallstudie: Der Markt im Unternehmen führt schließlich zu einem Markt für Unternehmen.