Verlorenes Arkadien

06.04.2010
"Das Haus der Häuser" ist ein rätselhaftes Buch mit einem rätselhaften Schicksal. Der Verfasser Andrea Giovene, Abkömmling eines neapolitanischen Fürstengeschlechts, hatte zwischen 1966 und 1970 sein fünfbändiges Epos "AutoBiografie des Giuliano di Sansevero" im Mailänder Verlag Rizzoli veröffentlicht.
Verknüpft mit seiner eigenen Lebensgeschichte legte der 1904 geborene Schriftsteller den Niedergang des Sanseveros dar, eingebettet in die historischen Wechselfälle des Ersten und Zweiten Weltkrieges. 1969 kam der dritte Band heraus, der jetzt unter dem Titel "Das Haus der Häuser", mit einem aufschlussreichen Nachwort von Ulrike Vosswinkel versehen, zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.

Die "AutoBiografie" war zunächst ein internationaler Erfolg: Nach mehreren Auflagen in italienischer Sprache erhielt sie einen wichtigen europäischen Literaturpreis in Nizza. Übersetzungen ins Französische, Schwedische, Finnische, Spanische und Englische waren in Vorbereitung. Doch so gleißend der Aufstieg von Andrea Giovenes Vergangenheitsrecherche begann, so rasch versank sein literarisches Werk wieder in Vergessenheit. Anfang der 70er-Jahre wirkte der erzählerische Gestus des Adligen in Italien nicht mehr zeitgemäß, obwohl die Übersetzungen ins Englische auf großes Echo stießen. Giovene ist heute in Italien ein Unbekannter und taucht in kaum einer Literaturgeschichte auf, seine Bücher sind vergriffen.

In "Das Haus der Häuser" nimmt das Alter Ego des Verfassers Giuliano auf einem Olivenhain im (erfundenen) Küstenort Licudi in Kalabrien Quartier, der im Besitz der Familie ist. Enttäuscht von den mondänen Zerstreuungen der Gegenwart, wendet sich der Ich-Erzähler dem einfachen Leben zu. Licudi besitzt nicht einmal eine Straße. Der Ort ist bitterarm, aber wirtschaftlich unabhängig: Jeder Bewohner hat bestimmte Fertigkeiten und geht einem Beruf nach. Es gibt Fischer, Gemüsebauern, einen Tischler, einen Kesselschmied und den Maurer Janaro mit seinen Brüdern. Giuliano hat einen Plan – er will auf seinem Grund ein Haus errichten.

Mit Janaros Hilfe entsteht in mühevoller Arbeit, die sich in den Jahresrhythmus mit Olivenernte, Ölherstellung und Fischfang einfügt, langsam das "Haus der Häuser". Für Giuliano ist es eine glückliche Zeit: Durch den Bau des Hauses wird er Teil der Gemeinschaft, erhält Rechte und Pflichten und steht schließlich einer eigenen kleinen "Familie" vor, Menschen, die er unterstützt. Doch die Wirklichkeit bricht über Licudi herein. Wegen archäologischer Funde soll eine Straße gebaut werden, die das jahrhundertealte Gleichgewicht der Ortschaft binnen weniger Jahre zerstört. Parallel dazu fühlt sich Giuliano von einer Liebe zu einem zwölfjährigen Mädchen ergriffen, die er sich versagt.

Der Roman besticht durch seinen Anachronismus. Giuliano, tief im humanistischen Wissen verwurzelt, erlebt er den eigenen Werdegang wie einen griechischen Mythos. Seine Hybris fordert den Zorn der Götter heraus - sein Arkadien geht schließlich verloren, er muss Licudi den schicksalhaften Mächten überlassen. Gleichzeitig steht der Wandel von Licudi für den Einbruch der Industrialisierung in Süditalien. Im Unterschied zu Carlo Levis dokumentarischem Roman "Christus kam nur bis Eboli" mit seinen drastischen Schilderungen einer rückständigen Bevölkerung erlebt Giovenes Ich-Erzähler seine Licuder als ideale Gemeinschaft.

Giovene gelingen poetische Landschaftsbilder und eindringliche Charakterstudien; mitunter verfällt er aber in einen schwer erträglichen pompösen Ton, vor allem, wenn es um sein verbotenes Begehren geht. Dennoch ist Das Haus der Häuser ein hochinteressantes Zeugnis einer untergegangenen Welt.


Besprochen von Maike Albath

Andrea Giovene, Das Haus der Häuser,
aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn, Osburg Verlag,
Berlin 2010, 357 Seiten, 19,95 Euro