Verlorene Jugend
Man könnte Dagmar Chidolues Buch als einen Akt der "Geschichtsschreibung von unten" bezeichnen. Zeigt es doch, wie sich die großen politischen Entscheidungen und sozialen Umwälzungen der NS-Zeit auf das Leben des kleinen Mannes auswirken. Dem Roman gelingt es, die "Psychologie der Verführung" zu beschreiben.
Über 50 Kinder- und Jugendbücher hat Dagmar Chidolue geschrieben und für ihre "Lady Punk" schon 1986 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen – den einzigen vom Staat vergebene Literaturpreis in Deutschland. Mit ihren unangepassten, frechen und eigenwilligen Mädchenfiguren hat die Autorin "die Literaturlandschaft nachhaltig verändert", wie der Kinderbuchkenner Malte Dahrendorf es formulierte. Nach vielen Kinderbüchern ist gerade "Flugzeiten" erschienen, ein Buch für Jugendliche und junge Erwachsene.
Ostpreußen 1932. Bruno – genannt Bonna - ist 13 und das älteste von sechs Kindern eines Milchkutschers. Er lebt mit seiner Familie in zwei Zimmern und muss schon als Schuljunge hart arbeiten, um zum Familienunterhalt beizutragen. Mief, Enge, Krach, dazu ein kranker Vater und eine überforderte Mutter – so sehen in den 30er Jahren viele Kindheiten aus, die von Arbeitslosigkeit, Armut und fehlenden Perspektiven für die Zukunft geprägt sind. Der Junge flieht daraus, zunächst jedoch nur in Gedanken: Er träumt vom Fliegen.
Doch Bonna, der fleißig, verantwortungsbewusst und eher still ist, allerdings auch sehr naiv und politisch völlig desinteressiert, bekommt über Jungvolk und Fliegerklub die Gelegenheit zum Segelfliegen und meldet sich nach dem Arbeitsdienst mit dem Kriegsausbruch bei der Luftwaffe. Dort fällt er positiv auf, denn er spurt aufs Wort und ist immer bereit, seine Pflicht zu erfüllen. Dass er den Eignungstest zum Flugzeugführer nicht besteht, enttäuscht ihn nur kurz, denn bald schon kommen die ersten Kameraden nicht mehr von ihren Flügen zurück. Und als der Vater 1940 stirbt, muss Bonna endgültig und schmerzhaft erwachsen werden.
Dagmar Chidolue erzählt in "Flugzeiten" – dies wird schon im Vorwort klar - eine authentische Geschichte. Es ist die Geschichte ihres Vaters, der 1919 geboren wurde, bei Kriegsende 26 Jahre alt war und nach dem Krieg weder bereit noch in der Lage war, über seine Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen. Erst sechzig Jahre später konnte er seiner Tochter von seiner Jugend berichten, die kurz vor Beginn des Dritten Reiches begann und im Zweiten Weltkrieg verloren ging. Er, der immer funktionieren und ein richtiger Mann sein wollte, konnte erst dann von der Sehnsucht erzählen, die jemanden treibt, der in Armut, Enge und Unwissenheit aufgewachsen ist.
Ganz aus der Perspektive des Jungen zeichnet Dagmar Chidolue das Bild einer körperlich und seelisch belasteten, allerdings nie trostlosen Kindheit und Jugend. Mit Bonnas Augen betrachtet sie Welt, mit seinen Worten beschreibt sie, was er beobachtet, fühlt und denkt, über seinen Horizont – geographisch und seelisch – schaut sie nicht hinaus. Das wirkt außerordentlich überzeugend und problematisch zugleich.
Überzeugend, weil hier sehr detailliert und atmosphärisch dicht, in knappen, einfachen Sätzen das Leben in der Kleinstadt und beim Militär geschildert wird, die häusliche Enge und die Plackerei in der Ausbildungsfirma, die selige Freiheit der ersten Flugversuche und die Schinderei beim Kommis. Bonna nimmt das alles gleichmütig hin, tut was zu tun ist und überlässt das Fragen, Denken und Bestimmen den Anderen. Sein Motto: "Was soll man denn schon machen?"
Problematisch ist eine so naive Erzählhaltung grundsätzlich darum, weil sie zur totalen Identifikation einlädt und kaum Distanz oder sogar Kritik sowohl am Protagonisten als auch an den im Hintergrund dräuenden politischen Veränderungen zulässt. Doch Dagmar Chidolue geht sich nicht selbst auf den Leim.
Ohne aus Bonnas Perspektive herauszufallen macht sie dem jungen Leser doch immer wieder deutlich, wie gefährlich und zugleich leer die Nazi-Propaganda ist, wie verführerisch die Aufmärsche und Kameradschaftstreffen. Nicht nur, dass der sozialistisch eingestellte Vater die politische Entwicklung ab 1933 und den Einstieg in den Krieg mit bitterbösen Kommentaren begleitet. Bonna zeigt sich auch selbst bald als resistent gegenüber den leeren Parolen der Nazis. Was die Autorin da aus Aufrufen und Broschüren zitiert, entlarvt sich selbst.
Man könnte Dagmar Chidolues "Flugzeiten" als einen Akt der "Geschichtsschreibung von unten" bezeichnen. Zeigt das Buch doch, wie sich die großen politischen Entscheidungen und sozialen Umwälzungen auf das Leben des kleinen Mannes auswirken. Die Folgen von Arbeitslosigkeit und Machtergreifung, Judenverfolgung und Aufrüstung, Krieg und Flucht sickern langsam in Bonnas Alltag ein und bestimmen schließlich sein ganzes Leben. Dass der Roman 1940 endet mit dem Tod seines Vaters - und nicht 1945 mit dem Ende des Krieges - zeigt, dass es um ein konkretes Erwachsenwerden geht in dieser unseligen Zeit und nicht um das Porträt einer ganzen Epoche. Wobei die "Flugzeiten" weitaus mehr Abstürze und Bruchlandungen enthalten als Höhenflüge.
Dem Roman gelingt, was die Autorin sich im Vorwort vorgenommen hat: Die "Psychologie der Verführung" zu beschreiben, die aus arglosen jungen Menschen fanatische Parteigänger und überzeugte Soldaten machte. Doch der Roman nimmt diesen jungen Menschen trotzdem nicht ihre Würde. Bleibt die Frage, ob jemand wie Bonna wirklich nie eine Wahl hatte und Mitläufer werden musste. Eine Frage, die auch ältere Leser noch beschäftigen kann und deren Diskussion vielleicht verhindern hilft, dass sich die Geschichte eines Tages wiederholt.
Rezensiert von Sylvia Schwab
Dagmar Chidolue: Flugzeiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2007, 254 Seiten, 12,90 Euro. Ab 12 Jahre.
Ostpreußen 1932. Bruno – genannt Bonna - ist 13 und das älteste von sechs Kindern eines Milchkutschers. Er lebt mit seiner Familie in zwei Zimmern und muss schon als Schuljunge hart arbeiten, um zum Familienunterhalt beizutragen. Mief, Enge, Krach, dazu ein kranker Vater und eine überforderte Mutter – so sehen in den 30er Jahren viele Kindheiten aus, die von Arbeitslosigkeit, Armut und fehlenden Perspektiven für die Zukunft geprägt sind. Der Junge flieht daraus, zunächst jedoch nur in Gedanken: Er träumt vom Fliegen.
Doch Bonna, der fleißig, verantwortungsbewusst und eher still ist, allerdings auch sehr naiv und politisch völlig desinteressiert, bekommt über Jungvolk und Fliegerklub die Gelegenheit zum Segelfliegen und meldet sich nach dem Arbeitsdienst mit dem Kriegsausbruch bei der Luftwaffe. Dort fällt er positiv auf, denn er spurt aufs Wort und ist immer bereit, seine Pflicht zu erfüllen. Dass er den Eignungstest zum Flugzeugführer nicht besteht, enttäuscht ihn nur kurz, denn bald schon kommen die ersten Kameraden nicht mehr von ihren Flügen zurück. Und als der Vater 1940 stirbt, muss Bonna endgültig und schmerzhaft erwachsen werden.
Dagmar Chidolue erzählt in "Flugzeiten" – dies wird schon im Vorwort klar - eine authentische Geschichte. Es ist die Geschichte ihres Vaters, der 1919 geboren wurde, bei Kriegsende 26 Jahre alt war und nach dem Krieg weder bereit noch in der Lage war, über seine Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen. Erst sechzig Jahre später konnte er seiner Tochter von seiner Jugend berichten, die kurz vor Beginn des Dritten Reiches begann und im Zweiten Weltkrieg verloren ging. Er, der immer funktionieren und ein richtiger Mann sein wollte, konnte erst dann von der Sehnsucht erzählen, die jemanden treibt, der in Armut, Enge und Unwissenheit aufgewachsen ist.
Ganz aus der Perspektive des Jungen zeichnet Dagmar Chidolue das Bild einer körperlich und seelisch belasteten, allerdings nie trostlosen Kindheit und Jugend. Mit Bonnas Augen betrachtet sie Welt, mit seinen Worten beschreibt sie, was er beobachtet, fühlt und denkt, über seinen Horizont – geographisch und seelisch – schaut sie nicht hinaus. Das wirkt außerordentlich überzeugend und problematisch zugleich.
Überzeugend, weil hier sehr detailliert und atmosphärisch dicht, in knappen, einfachen Sätzen das Leben in der Kleinstadt und beim Militär geschildert wird, die häusliche Enge und die Plackerei in der Ausbildungsfirma, die selige Freiheit der ersten Flugversuche und die Schinderei beim Kommis. Bonna nimmt das alles gleichmütig hin, tut was zu tun ist und überlässt das Fragen, Denken und Bestimmen den Anderen. Sein Motto: "Was soll man denn schon machen?"
Problematisch ist eine so naive Erzählhaltung grundsätzlich darum, weil sie zur totalen Identifikation einlädt und kaum Distanz oder sogar Kritik sowohl am Protagonisten als auch an den im Hintergrund dräuenden politischen Veränderungen zulässt. Doch Dagmar Chidolue geht sich nicht selbst auf den Leim.
Ohne aus Bonnas Perspektive herauszufallen macht sie dem jungen Leser doch immer wieder deutlich, wie gefährlich und zugleich leer die Nazi-Propaganda ist, wie verführerisch die Aufmärsche und Kameradschaftstreffen. Nicht nur, dass der sozialistisch eingestellte Vater die politische Entwicklung ab 1933 und den Einstieg in den Krieg mit bitterbösen Kommentaren begleitet. Bonna zeigt sich auch selbst bald als resistent gegenüber den leeren Parolen der Nazis. Was die Autorin da aus Aufrufen und Broschüren zitiert, entlarvt sich selbst.
Man könnte Dagmar Chidolues "Flugzeiten" als einen Akt der "Geschichtsschreibung von unten" bezeichnen. Zeigt das Buch doch, wie sich die großen politischen Entscheidungen und sozialen Umwälzungen auf das Leben des kleinen Mannes auswirken. Die Folgen von Arbeitslosigkeit und Machtergreifung, Judenverfolgung und Aufrüstung, Krieg und Flucht sickern langsam in Bonnas Alltag ein und bestimmen schließlich sein ganzes Leben. Dass der Roman 1940 endet mit dem Tod seines Vaters - und nicht 1945 mit dem Ende des Krieges - zeigt, dass es um ein konkretes Erwachsenwerden geht in dieser unseligen Zeit und nicht um das Porträt einer ganzen Epoche. Wobei die "Flugzeiten" weitaus mehr Abstürze und Bruchlandungen enthalten als Höhenflüge.
Dem Roman gelingt, was die Autorin sich im Vorwort vorgenommen hat: Die "Psychologie der Verführung" zu beschreiben, die aus arglosen jungen Menschen fanatische Parteigänger und überzeugte Soldaten machte. Doch der Roman nimmt diesen jungen Menschen trotzdem nicht ihre Würde. Bleibt die Frage, ob jemand wie Bonna wirklich nie eine Wahl hatte und Mitläufer werden musste. Eine Frage, die auch ältere Leser noch beschäftigen kann und deren Diskussion vielleicht verhindern hilft, dass sich die Geschichte eines Tages wiederholt.
Rezensiert von Sylvia Schwab
Dagmar Chidolue: Flugzeiten
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2007, 254 Seiten, 12,90 Euro. Ab 12 Jahre.