Verliebtheit im Geheimversteck

29.07.2011
Anne Franks Tagebuch hat Generationen von Jugendlichen und Erwachsenen bewegt. Und es hat auch immer wieder Spekulationen ausgelöst: Was wäre aus Anne geworden, wenn sie nicht in Bergen-Belsen gestorben wäre? Und wie genau war das Verhältnis zu Peter van Pels, der mit seiner Familie im selben Hinterhaus wie die Familie Frank versteckt war? Diese Frage hat sich die englische Jugendbuchautorin Sharon Dogar gestellt. In ihrem Roman "Prinsengracht 263" erzählt sie die Geschichte von Anne und Peter - einmal anders.
Im Juli 1942 tauchten die beiden Familien Frank und van Pels im Hinterhaus der Prinsengracht 263 in Amsterdam unter, denn ihre Deportation in ein KZ stand unmittelbar bevor. Zwei Jahre und einen Monat lang lebten acht Menschen in diesem Versteck auf engstem Raum, eine Zeit, die unglaublich gut – aber auch sehr subjektiv – dokumentiert ist durch Anne Franks berühmtes Tagebuch. Wer es liest, ist noch heute fasziniert von der Intelligenz, der Offenheit und der Reife dieses Mädchens, das nur fünfzehn Jahre alt wurde.

Sharon Dogar erzählt nun von den hochdramatischen Ereignissen in der Prinsengracht 263 aus Peters Sicht. Und das heißt bald: aus der Sicht eines Verliebten. Es ist eine Liebe unter schwierigsten Bedingungen, in peinigender Enge, unter ständiger Beobachtung und Bedrohung. Dazu kommt die Frage, ob die beiden ungleichen jungen Menschen sich in Freiheit je aufeinander eingelassen hätten. Peter, der zurückhaltende und ängstliche Grübler, hat nicht so sehr die politischen Ereignisse und den zermürbenden Alltag im Blick wie die pragmatische Anne. Er lässt den Leser vor allem an seinen Gedanken und Gefühlen, an seinen Träumen und Albträumen, Wünschen und Sehnsüchten teilhaben. "Prinsengracht 263" ist, so der Untertitel, die "bewegende Geschichte des Jungen, der Anne Frank liebte".

Was das Gerüst der Fakten, Daten und Ereignisse betrifft, bewegt sich Dogars bzw. Peters Ich-Erzählung in einer Art Tagebuch-Monolog ganz eng an Annes Franks Tagebuch entlang. Interessanter als diese Parallelen sind allerdings die Abweichungen! Die Autorin entwickelt Peter als vielschichtigen Charakter, deutet Ereignisse um und gewichtet sie neu. Gefundenes und Erfundenes ergänzen sich zu einem sehr lebendigen und anrührenden Geschehen auf der Grenze zwischen Fakten und Fiktion. Dazu kommt eine kursiv gesetzte Erzählebene, die Peters Geschichte nach der Entdeckung durch die Polizei und dem Schluss von Annes Tagebuch fortschreibt. Seine unsäglichen Leiden auf Transporten und im KZ, bei Selektionen und Schikanen stehen für die Leiden aller Juden und damit auch für Annes Schicksal, das ja unklar ist.

Sprachlich ist Peters Erzählung gelassen und unterhaltend – anders als Annes Tagebuch. Sie liest sich leicht, mitreißend, oft sehr spannend und in den Liebesszenen taktvoll, zart und nie kitschig. Dogar lädt auch Jungen zur Identifikation ein und entwickelt gerade in den kursiven KZ-Passagen eine große Eindringlichkeit.

Im Vorwort erklärt die Autorin, was sie mit ihrem Roman im Sinn hat: Die "Neugestaltung" einer ebenso authentischen wie spektakulären Geschichte. Sie soll die alte "Geschichte lebendig erhalten", damit niemals vergessen wird, "was Hass für verheerende Auswirkungen haben kann". Ein pädagogischer Hinweis, den ihr Roman gar nicht nötig hat. Dafür ist er viel zu bewegend und viel zu gut geschrieben. Anne Franks Tagebuch kann und will er nicht ersetzen, aber ergänzen. Auch ein schöner Anlass, das Original wieder zu lesen!

Besprochen von Sylvia Schwab

Sharon Dogar: Prinsengracht 263
Die bewegende Geschichte des Jungen, der Anne Frank liebte
Aus dem Englischen von Elisabeth Spang
Thienemann Verlag, Stuttgart 2011
366 Seiten, 18,00 Euro, ab 13 Jahren