Verletzlichkeit und Religion

Gott im Leiden finden

08:27 Minuten
Das Detail von blutenden Wunden einer Jesusfigur am Kreuz.
Sie sind schmerzhaft, können aber auch Heilserfahrungen ermöglichen: So galten die Wunden von Jesus seinen Jüngern als Zeugnis seiner Auferstehung. © Getty Images / iStockphoto
Von Kirsten Dietrich · 17.07.2022
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Wunden sollten so schnell wie möglich versorgt und geheilt werden. Das ist die medizinische Seite, es gibt aber auch eine spirituelle. Was nach finsterem Mittelalter klingt, hat noch heute zum Teil sehr unterschiedliche Bedeutung.
Wunden hat Dieter Puhl in seiner Zeit als Leiter der Berliner Bahnhofsmission viele gesehen. Das Leben auf der Straße führt zu Verwundungen – und das ist nicht metaphorisch gemeint oder jedenfalls nicht nur.
Manche hat er fotografiert: „Wenn ich mir das Foto angucke, das ist ganz grobflächig: Der gesamte Fuß und das Bein sind nur Wunden und Eiter. Dann frage ich mich, wie ein Mensch sich selbst so fremd werden kann, dass er das erträgt.“

Obdachlose mit seelischen und körperlichen Wunden

Wer auf der Straße lebt, hat selten die Möglichkeit, beim Waschen die Kleidung abzulegen und den eigenen Körper überhaupt wahrzunehmen. Dass die Bahnhofsmission seit mehr als fünf Jahren ein sogenanntes Hygiene-Center mit Dusche und Friseur betreibt, ist deshalb kein Luxus, sagt deren Chef.

Wenn wir das ein bisschen breiter verstehen und nicht die offenen Beine nehmen, dann glaube ich, dass die Wunden Ursache der Obdachlosigkeit sind. Ein Psychiater sagte mal: Jeder der Menschen hier ist zutiefst traumatisiert. Traumatisierungen sind Verletzungen.

Dieter Puhl

Wer auf der Straße lebt, leidet meist unter sogenannten Mehrfachbeeinträchtigungen. Traumatische Erfahrungen, psychische Erkrankungen, dazu meist massiver Alkoholmissbrauch. Irgendwann entsprechen den seelischen Wunden dann die des Körpers, sagt Dieter Puhl. Man kann nur hoffen, dass eine Wunde vernarbt, und man kann dann nur hoffen, dass ein Mensch danach mit seinen Narben leben kann.
Im Hauptraum der Bahnhofsmission hängt ein kleines Kruzifix, direkt neben der Essensausgabe. Die Einrichtung wird schließlich von der evangelischen Kirche getragen, und das Versorgen von Wunden gehört von Anfang an zur christlichen Nächstenliebe. Ganz klassisch ist Jesus am Kreuz aus Holz geschnitzt, mit Dornenkrone und all seinen Wunden. Die sind besonders sorgfältig mit roter Farbe bemalt, das blutrot der Wunden ist die einzige Farbe am Kruzifix.

Furcht und Staunen als Grundformel des Heiligen

Im Johannes-Evangelium heißt es: „Die anderen Jünger berichteten ihm: ‚Wir haben den Herrn gesehen!‘ Thomas entgegnete ihnen: ‚Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen.‘“
Der sprichwörtliche ungläubige Thomas berührt die Wunde Jesu und wird vom Zweifler zum Gläubigen. Unzählige Male ist diese Szene in der christlichen Kunst verewigt worden: mit gläubigem Staunen und mit einer schaudernden Faszination daran, hier in eine Öffnung zu sehen, die eigentlich nicht sein darf. Furcht und Staunen, der Religionswissenschaftler Rudolf Otto sah darin die Grundformel des Heiligen.

Verwundbarkeit sichtbar machen

Auch die katholische Theologin Hildegund Keul von der Universität Würzburg möchte Wunden und Verwundbarkeit wieder sichtbar machen, ohne falsche Glorifizierung allerdings. Von der Wundenfrömmigkeit von Mittelalter und Barock ist Keul weit entfernt.
„Man könnte denken, dass nach der Auferstehung die Wundmale einfach weg sind, so nach dem Motto: Alles wird gut, alles wird heil, aber die Wunden sind noch da, die Narben bleiben. Das ist sehr realistisch im Leben der Menschen“, sagt sie.

Es geht nicht darum, jetzt zu sagen: Die Wunden sind großartig. Es ist die Frage: Die Wunden sind da, wie gehen Menschen damit um und welche Kompetenzen entwickeln sie, mit solchen Wunden umzugehen?

Hildegund Keul

Durch die Wunde fällt Licht

Denn Wunden kann man auch als Öffnungen verstehen: Eine Person hat sich vorgewagt, hat die Sicherheitszone verlassen – offenkundig etwas oder viel zu weit. Aber neben dem hoffentlich nur zeitweiligen Schaden nimmt sie auch neue Eindrücke mit. „Man fühlt sich dazu bewegt, Entscheidungen zu treffen, wenn man mit Wunden zu tun hat.“, so Keul.
Der Sufi-Mystiker und Dichter Jalāl ad-Dīn Muhammad Rumi soll gesagt haben: „Die Wunde ist der Ort, wo das Licht in dich eintritt.“ Die Mystik mit ihrem intensiven Hineinfühlen in religiöse Erfahrungen, und das auch ganz körperlich, hat sich schon immer für Wunden interessiert.

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Schon immer gehört dazu aber auch die Erfahrung: So genau hinsehen wollen nicht alle. Wer die Kreuzeswunden Jesu am eigenen Körper trägt, von Franz von Assisi bis zum italienischen Prediger Padre Pio, sammelt ergebene Gläubige um sich, aber auch energische Ablehnung.

Wunden – eine Herausforderung im Missbrauchsskandal

Wer heute Wunden durch Missbrauch öffentlich macht, erfährt: Vertuschung, Kleinreden, Nicht-Hinsehen-Wollen, auch und gerade in der Kirche.
Noch einmal Hildegund Keul: „Das haben wir auch in letzten Jahren gemerkt, wie viele Menschen sich dadurch, dass sie sich geöffnet, selbst in Gefahr gebracht haben, so was aufzudecken, eine Wunde, die von anderen erzeugt worden ist – Vertuschung heißt, dass quasi eine gezeigte Wunde noch mal verschlimmert wird, dass sie noch mal potenziert wird in ihrer Gewaltauswirkung.“
Jan Loffeld lehrt praktische Theologie an der Tilburg School of Catholic Theology in Utrecht und ist katholischer Priester. Er sagt: „Ich glaube, das passiert auch zumindest in der katholischen Kirche derzeit an manchen Stellen, dass man sagt: Wir möchten uns unverwundbar halten, das Image retten, aber dafür werden halt Betroffenenbeiräte oder Opfer erneut zu Opfern. Da liegen Parallelen, dass die Kirche, gerade die katholische, mit dieser Unverwundbarkeit derzeit völlig Schiffbruch erlebt.“
Die Kirchen seien herausgefordert, sich noch einmal ganz neu der Herausforderung durch Wunden zu stellen. Keul stimmt zu: „Das Schlimme ist, dass die katholische Kirche ja in ihrer Tradition einen anderen Umgang mit Wunden und Verwundbarkeit propagiert, also die Wunden Jesu stehen im Zentrum und das, was passiert ist: Die Wunden, die man selber geschlagen hat, werden verborgen, vertuscht, und die Aufarbeitung ist nach wie vor ein sehr schwieriges Feld.“

Spirituelle Deutung nicht mehr selbstverständlich

Das ist die Herausforderung an die Institution durch die Wunden, die zu lange verborgen gehalten wurden.
Es gibt aber noch eine ganz andere: Denn die lange so selbstverständliche Verknüpfung von Wunden mit spiritueller Erfahrung ist gar nicht mehr so selbstverständlich. Den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald betrachten heute Kunstbegeisterte im Museum. Gemalt wurde der eindrückliche Gekreuzigte mit seinen bluttropfenden Wunden für ein klösterliches Krankenhospiz.
Loffeld erklärt: „Das diente eben der gegenseitigen Identifikation, Gott ist verwundbar, deshalb könnt ihr eure Wunden besser annehmen, und aufgrund dessen haben Wunden nicht das letzte Wort, weil Gott in Jesus die Kontingenz des Todes überwunden hat.“

Wunden zeigen auf Instagram

In der Selbstoptimierungsgesellschaft von heute, sagt er, gehe es aber nicht mehr darum, das Unplanbare oder Kontingente einfach an Gott weiterzuweisen. Weil so viel behandelbar oder planbar ist, beeinflusst das auch den Umgang mit Wunden und Verwundungen.
„Bei Instagram gab es zum Beispiel mal eine Darstellung“, erzählt er, „wo eine sehr hübsche junge Dame ihren künstlichen Ausgang zeigte und dafür unglaublich viele Likes bekam, viele tolle Kommentare, weil sie zu ihrer Wunde stand und das mit einer positiven Narration verband: ‚Ich lebe damit gut.‘“
Loffeld möchte das nicht schlechtreden, aber auf eine zentrale Verschiebung hinweisen: Eine religiöse Deutung von Wunden verliert damit ihren Ort.

Heute geht es nicht darum, sie sozusagen mit dem Göttlichem zu identifizieren, sondern die Geschichte der Wunde zu erzählen und das dann zustimmungsfähig werden zu lassen. Das heißt, dass dann Leute das interessant finden oder sich damit identifizieren können und sagen: Okay, so ist derjenige oder diejenige mit ihrer Wunde umgegangen, so geht sie damit um, also gibt das für mich auch Trost.

Jan Loffeld

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