Verkannter Philosoph

Von Natascha Freundel |
Zu Lebzeiten hatte der Philosoph und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin wenig Glück mit akademischen Institutionen. Seine Texte zur Sprachphilosophie, zum Barock, zur Geschichte, zu Kunst, Technik und Architektur der Moderne erschienen daher zumeist verstreut in Zeitschriften. Mittlerweile ist Benjamin als einer der einflussreichsten Denker weltweit anerkannt. Und dass seine Schriften auch heute noch aktuell sind, darüber war man sich auf dem Benjamin-Festival "Now. Das Jetzt der Erkennbarkeit" einig.
Walter Benjamins Werke sind unerschöpflich, das stellte sich einmal mehr heraus. Seine so poetischen Wörter schmeicheln sich ein und sind dann doch, näher betrachtet, nie ganz zu packen: "Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten, wie ein Mann, der gräbt", lautet einer seiner berühmten Sätze aus dem Erinnerungsbuch "Berliner Kindheit um 1900". Der israelische Landschaftsarchitekt und Bildhauer Dani Karavan:

"”Jeder Ort hat ein Gedächtnis, denke ich. Wenn man nur zu graben beginnt, stößt man auf dieses Gedächtnis. Doch sehr tief muss man gar nicht graben. Es leben ja noch Menschen, die davon erzählen können, wie sie oder wie Angehörige diese Grenze überquerten.""

Dani Karavan grub im katalanischen Grenzort Port Bou, wo Walter Benjamin die Einreise von Frankreich nach Spanien verweigert wurde und wo er sich am 26. September 1940 mit einer Überdosis Morphium das Leben nahm. In Port Bou gibt es mittlerweile nicht nur Karavans Landschaftsskulptur "Hommage à Walter Benjamin" an der Steilküste zwischen Meer und Friedhof, sondern im wunderschönen alten Bürgerhaus auch ein Walter-Benjamin-Forschungs- und Kulturzentrum. Für die Literaturwissenschaftlerin und Festival-Initiatorin Sigrid Weigel bietet es die Chance, die Benjamin-Forschung, die etwa in Amerika so lebendig ist, in Europa zu konzentrieren. In Port Bou, wo die Stiftung des Zentrums noch im Aufbau ist, finden neben Vorträgen und Diskussionen auch Ausstellungen, Tanz und Theater statt. Weltweit werde Benjamin für die Praktiker der Künste, etwa für Filmemacher, Architekten und Komponisten immer wichtiger, ist man in Berlin überzeugt.

Deshalb standen beim Festival Künstler-Lectures etwa von Jochen Gerz, Alexander Kluge oder Rhobin Rhode aus Südafrika im Vordergrund. Das Musiktheater "Heißer Krieg" von Elena Tzavara verknüpfte Monteverdi und Hanns Eisler. Der amerikanische Schriftsteller Carl Djerassi führte Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg in einem fiktiven Gespräch auf den Parnass und der Schweizer Komponist Daniel Ott inszenierte im Hamburger Bahnhof die für Benjamin und seinen Schriftstellerkollegen Franz Hessel so wichtige Figur des modernen Flaneurs als Musikperformance.

Ott führte 15 Musiker durch die gesamte Kunsthalle in immer neuen Konstellationen aus- und zueinander. Aber es gab auch originale Hörkunst von Walter Benjamin:

"Erlaub mir, Lipsus Lapsus, dass ich dich über mein späteres Leben befrage. Frrrage. Welchen Weg soll ich gehen, um später nicht über mich zu weinen? Einen!"

Zu den vielen Wegen, auf denen Walter Benjamin sein Geld verdiente, gehörte die Arbeit für den deutschen Rundfunk seit 1929. Von seinen wohl 84 Radioproduktionen – darunter auch Rezensionen und Vorträge – erhielt sich allerdings nur das Kinder-Hörspiel "Radau um Kasperl" in Teilen als Tondokument von 1932:

"Soll ich nicht vielleicht die Weltweisheit studieren? Denn was ist der Mensch ohne Philosophie? Vieh."

So schallt es Kasperl vom Wahrsager auf dem Marktplatz entgegen. Auch im Zoo versucht er, sich auf merkwürdige Laute einen Reim zu machen: Er übersetzt die Affensprache. Zweifellos widmete sich Benjamin hier nicht nur den radiotechnischen Möglichkeiten seiner Zeit, sondern auch ganz spielerisch seinen eigenen sprachphilosophischen Überlegungen, die der Philosoph und Philologe Stéphane Mosès aus Paris am Donnerstag in Verbindung mit Benjamins kritischem Verhältnis zum Judentum betrachtete:

"Bei Benjamin wird die Wahrheit durch das Medium des Hörens erreicht, in der immer von neuem aktualisierten Erfahrung der Offenbarung geht es darum, im Hören die ursprüngliche Bedeutung der Wörter von Neuem zu vernehmen, jenseits ihrer durch Wiederholung und Gewohnheit erlittenen Abnutzung."

Im Tagungsteil des Festivals – ein Mammutprogramm von mehr als 100 wissenschaftlichen Vorträgen – war vielleicht nicht die ganze Wahrheit über Benjamin zu hören, aber doch viel Neues. Vor allem die Eröffnung des Benjamin-Archivs vor zwei Jahren in der Berliner Akademie der Künste ermöglicht, den Miniaturschreiber, Papierfetischisten und exzentrischen Sammler Benjamin unter die philologische Lupe zu nehmen. Jedes noch so klein scheinende Detail ist von Interesse: Sei es der mit fünfzackigen Sternen bedruckte Reklameblock für S. Pellegrino-Mineralwisser, auf dem Benjamin 1935 einen Text über Aura, Sterne und Astrologie notierte; sei es seine Abneigung gegen die Schreibmaschine und sein Beharren auf der scharf gespitzten Feder. "Benjamin liest Wittgenstein" oder "Kommunistische Kultur- und Theoriepolitik" lauteten eher ungewöhnliche Tagesordnungspunkte. Doch Benjamins Aktualität, jenes "Now", das sich die Initiatoren im Festivaltitel vorgenommen haben, zeigte sich gerade dort, wo es um die alte Frage nach den religiösen Traditionen ging. Stephane Moses zufolge ging es Benjamin um "eine Rettung der theologischen Begriffe durch deren Umdeutung ins Profane". Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel dagegen erkennt bei Benjamin eher den Versuch, die Profanität durch Besinnung auf religiöse Wurzeln zu retten:

"Wir müssen einfach anerkennen, dass unsere Vorstellung vom Mehr-als-Kreatürlichen diesen Ursprung hat. So und was machen wir daraus jetzt heute, in der Moderne, in einer säkularen Zeit. Wir sind nicht post-säkular, weil wir nie ganz säkular waren und auch nicht sein können. Und diese differenzierte und ... ist für mich ne Alternative zu dem, was heute passiert, also entweder die Rückbesinnung auf die Konfession, die Kirche, die Institutionen – also zur Institution hat Benjamin in jeder Hinsicht immer ne kritische Position gehabt – oder die Illusion einer totalen Säkularisierung."