Verhöre am Fließband

07.07.2010
Das Dilemma der israelischen Gesellschaft zwischen Terrorangst und moralischer Integrität schildert Yishai Sarids Roman "Limassol". Das Buch des in Tel Aviv lebenden Autors ist ein Parforceritt, der die ständige Bedrohtheit und Atemlosigkeit der Figuren in einer raffinierten Sprache reproduziert.
"Vor der ersten Begegnung mit einem Menschen studiere ich seine Gesichtszüge stets genau, das beugt Überraschungen vor." Mit diesem banalen Satz zieht einen ein namenloser Ich-Erzähler in seine Katastrophe hinein. Ausgangspunkt der fatalen Spirale ist die Begegnung mit einer jüdischen Schriftstellerin, Daphna, die ein schönes Gesicht hat. Bei ihr will der Erzähler, ein angeblich reicher Ex-Investmentberater, anscheinend einen Creative-Writing-Kurs machen.

Aber er will gar nicht, er hat einen Auftrag vom israelischen Inlandgeheimdienst Schabak. Die Gesichter, die er sonst studiert, gehören arabischen Männern. Er ist Verhörspezialist und bearbeitet "am Fließband" jeden, aus dem sich irgendeine Information pressen lässt, mit der man die lebenden Bomben entschärfen kann, bevor sie hochgehen. Er ist keiner von den "Schlächtern", wie er und sein Chef gewisse Kollegen nennen. Er ist gut vierzig, hat Frau und Kind und vernachlässigt beide, weil es ihn immer obsessiver in den Jerusalemer Folterkeller zieht.

Gleich sein nächstes Verhör - mit dem Bruder eines Attentäters, der irgendwo in Israel mit einem Sprengstoffgürtel unterwegs ist - endet doppelt tödlich, der Verhörte erstickt an seinem Erbrochenen, und die lebende Bombe geht hoch. Unser Mann registriert, wie seine Sicherheit, das Nötige, wenn auch Scheußliche, zu tun, erste feine Risse bekommt: Die Unbeugsamkeit seines Opfers beeindruckt ihn, er kann sich an Gesichter nicht mehr erinnern, denkt immer irritierter an das von Daphna. Er will den Auftrag los werden und erledigt ihn doch. Daphna hat einen engen Freund, einen palästinensischen Dichter. Hani sitzt todgeweiht in Gaza fest, von Schmerzen gepeinigt, weil er da nicht mal an Schmerzmittel kommt. Daphna will ihn raus holen.

Und der Schabak macht's möglich, denn der will Hanis Sohn, einen international operierenden Terroristen, der einen größeren Anschlag plant, liquidieren: In Limassol, auf Zypern, bei einem Abschiedstreffen von Vater und Sohn. Daphna durchschaut die Falle und dealt selbst: Unser Mann vom Schabak muss ihren Sohn Jotam retten, einen Junkie, der Gangstern Geld schuldet. Er steht bald vor der Frage: Was darf man eher verraten - die eigene moralische Integrität oder die Sicherheit des Landes? Er ist das Dilemma der israelischen Gesellschaft heute. Egal, wie die Antwort lautet, am Ende ist weder das eine noch das andere gewonnen.

Gewalt zerstört alle - die, die sie erleiden, und die, die sie verüben. Aber mit derlei moralischen Binsen hält Yishai Sarid sich zum Glück nicht auf. Er erzählt vielmehr, wie diese Zerstörungskraft wirkt. "Limassol" ist ein Parforceritt auch für den Leser, und nicht nur wegen etlicher grausiger Details. Die raffiniert knappe, transparente und atmosphärisch dichte Sprache reproduziert von Anfang an die ständige Bedrohtheit aller, die Atemlosigkeit wird von keiner Kapiteleinteilung beruhigt, das Zerbrechen aller Sicherheiten von keiner Unterscheidung in Gut und Böse. Klar, dass all das kein Happy End verträgt. Allerdings einen wunderschönen kleinen Hoffnungskeim für die ziemlich nahe Zukunft, den man auf keinen Fall verraten darf.

Besprochen von Pieke Biermann

Yishai Sarid: "Limassol". Roman
Aus dem Hebräischen von Helene Seidler
Verlag Kein & Aber, Zürich 2010
206 Seiten, 16,90 Euro