Verheddert und verhakt

Von Anne Phillips-Krug |
Der Name des Theaterfestivals ist eine Reminiszenz an Ernst Tollers "Hoppla, wir leben", das Protest und widerständige Lebenslust ausdrückt. Bis 8. Mai werden in Bern Produktionen aus Argentinien, Belgien, Deutschland und der Schweiz gezeigt.
Alles, was die junge Argentinierin Rosa von ihrem Vater besitzt, ist eine Kiste mit vergilbten Fotos aus seiner Kindheit. Das Land, das sie auf den Fotos sieht, meint sie, ist Deutschland. Dorthin will Rosa nun fahren, um ihren Vater zu suchen. Gemeinsam mit drei Freundinnen, die Rosas unterschiedliche Haltungen und Gefühle gegenüber der sogenannten Ersten Welt verkörpern, beginnt sie, sich das ferne Land auszumalen.

Das Stück "Fiktionland" der argentinischen Regisseurin und Autorin Romina Paula und des Schweizer Dramatikers Gerhard Meister spielt mit Klischees und Vorurteilen in der Begegnung von Europa und Lateinamerika. Im Mittelpunkt steht dabei auch die Fiktionalisierung der eigenen Geschichte, die die deutschstämmige Romina Paula aus ihrer Familie kennt:

"Irgendwie habe ich schon das Gefühl, dass meine Großeltern diese Sache hatten von diesem Vaterland, aber sehr wie ein Mythos wirklich, weil sie nie zurück sind, wo dieses Deutschland im Kopf immer existiert hat. Diese Sache von, ich gehöre eigentlich zu dieser anderen Welt, die es gar nicht gibt für mich, das ist der Ausgangspunkt."

Der Code des diesjährigen "Auawirleben"-Festivals lautet "Welt offen" – was ganz bewusst auseinander geschrieben wird. Die Mehrdeutigkeit dieses Codes erklärt Festivalleiterin Beatrix Bühler:

"Es ist natürlich ein Code, der gleich einen Widerspruch provoziert, weil jeder empfindet es so und kriegt es mit, dass die Welt geöffnet ist für eine bestimmte Schicht, für uns Mitteleuropäer sowieso, die ganzen Asylanten oder Flüchtlinge, die stoßen dauernd an Grenzen, für uns ist die Welt fast grenzenlos geworden und zwar auch in einem Sinne, dass diese Grenzenlosigkeit auch wieder eine Ambivalenz hat, also, wo können wir noch erden, oder eine Heimat finden, wo sind wir zuhause."

Bei "Auawirleben" sind die unterschiedlichsten Theaterformen und -sprachen zu erleben. Die Künstler kommen unter anderem aus England, Korea, Israel und den Niederlanden.

Beatrix Bühler: "Die Mischung ist auch sehr multikulturell, das betrifft nicht nur die Produktion pro Produktion, sondern auch die Produktionen in sich, also man kann eigentlich sagen, dass die Künstler eine interkulturelle Praxis schon lange antizipieren, das gehört zur Kunst, Gott sei Dank machen die das munter vor."

Die verschmitzt-geniale Performance "A Game of You" des belgischen Autorenteams Ontroerend Groed lädt zu einem Experiment mit der eigenen Wahrnehmung ein. Der Weg führt durch ein verspiegeltes Labyrinth unzähliger Projektionsflächen, an dessen Ende ein neues Selbstbild wartet:

Das Thema "Wie sehe ich mich und wie werde ich gesehen" prägt alle Inszenierungen des diesjährigen "Auawirleben"-Festivals. Beatrix Bühler:

"Das Fremdbild, das Selbstbild, die Selbsttäuschung, die Klischees, die Vorurteile, alles, was sich sozusagen da verheddert und verhakt, und alle Produktionen tun dies eigentlich, manche fokussieren also die interkulturelle Auseinandersetzung, das Zusammenleben, das durch die großen demografischen Veränderungen in den Städten ganz neu aussieht, andere tun das in einem viel weiteren Sinne."

Die unterschiedliche Herkunft der Künstler drückt sich auch im Bewegungs- und Tanzvokabular der einzelnen Gruppen aus. So wie bei der atemberaubenden Eröffnungsproduktion "32, Rue Vandenbranden" der belgischen Kompanie Peeping Tom mit koreanischen, argentinischen, französischen, englischen und belgischen Tänzern und Musikern. In einer bizarren Bewegungsstudie wird das Leben in einer Wohncontainersiedlung inmitten einer Eiswüste dargestellt. Begleitet von der Mezzosopanistin Eurudike De Beul werden die unterschiedlichen Biografien der Tänzer miteinander verwoben.

"Basically I don’t, but actually I do" heißt die deutsch-israelische Performance von und mit Jochen Roller und Saar Magal, die von der Begegnung der Enkel von Tätern und Opfern des Holocaust erzählt. In Bewegungen und Worten gehen Roller und Magal Bildern und Diskursen über die nationalsozialistische Vergangenheit auf den Grund.

Erstaunlich, wie sehr sich die einzelnen Produktionen in ihren ästhetischen Mitteln und bei der Verknüpfung unterschiedlichster Genres unterscheiden. Zu erleben sind unter anderem Puppen-Schauspieler-Theater, kinematografisches und interdisziplinäres Sprech- und Bewegungstheater.

Das spannende und bunte Programm des "Auawirleben"-Festivals zeigt internationales zeitgenössisches Theater als transkulturelles Experimentierfeld. Zu sehen ist Theater von intellektueller und sinnlicher Kraft.

Homepage des Festivals