Verheddert in Europas Kleinstaatlichkeit

Von Dunja Melcic |
Wählen ist Bürgerpflicht - das war lange Zeit vorherrschende Meinung. In diesem Wahlherbst ist das plötzlich anders: Sogar Intellektuelle erklären, sie würden der Urne fernbleiben. Die Philosophin Dunja Melčić kann das nicht überzeugen - wenn auch aus einem ganz persönlichen Grund.
Mein Mann wird wählen. Mein Sohn wird wählen. Ich aber werde nicht wählen, nicht wählen können.

Nun spielt eine einzige Stimme bekanntlich gar keine Rolle für das Ergebnis. Aber subjektiv ist die Stimmabgabe für eine freigewählte Option durchaus wichtig. Es zählt, dass man am politischen Prozess teilgenommen hat. Ich weiß: Ich war dabei. Möglich, dass man sich dessen erst dann bewusst wird, wenn man nicht teilnehmen darf.
So wie ich jetzt. Und das kam so: Nachdem meine Mutter plötzlich gestorben war, stand ich vor der Entscheidung, die Nachfolge in einem langwierigen Restitutionsprozess einzutreten, um ein Grundstück in Kroatien zurückzuerhalten, das meiner Urgroßmutter einst willkürlich weggenommen worden war. Langes Überlegen war nicht nötig, denn hinter dieser Sache steckte eine Frage der elementaren Gerechtigkeit.

Allerdings meinte mein Rechtsberater, es wäre dienlich, wenn ich die kroatische Staatsbürgerschaft hätte. Vorschnell entschloss ich mich, diese neu zu beantragen, ohne mich vorher sachkundig zu machen. Kurz zuvor war nämlich ein Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft von der rot-grünen Koalition verabschiedet worden. Das genügte mir.

Doch als Roland Koch dieses Gesetz zu bekämpfen begann, wurde ich hellhörig und ließ mich erneut beraten. Da war die Sache klar: Wer eine andere Staatsbürgerschaft beantragt, verwirkt damit seine deutsche Staatsbürgerschaft. Daran hatte sich mit der neuen Gesetzgebung nichts geändert.

Mir wurde das ganze Ausmaß des Irrtums schlagartig bewusst. Damit konnte ich nicht leben; wahrscheinlich liegt das am starken Rechtsbewusstsein, das mir mein Vater fürs Leben geschenkt hat. Er war Jurist und Richter von Beruf. Also ging ich zum Ordnungsamt und meldete, dass ich unrechtmäßig die deutsche Staatsbürgerschaft besitze.

Man fragte nach der amtlichen Aufforderung zur Rückgabe des deutschen Passes. Es gab keine. Verständnislos hörten die Beamten, ich sei aus eigener Initiative gekommen. Und in der Tat: Wie ich zu dieser Zeit leben unzählige Bürger, die aus der Türkei, aus Kroatien oder anderswoher stammen, unbehelligt mit zwei Pässen, weil eine nicht korrekte, doppelte Staatsbürgerschaft für gewöhnlich keine Konsequenz hat.

Der einzige Grund, weshalb ich noch die kroatische Staatsbürgerschaft besitze, ist das noch immer laufende Verfahren, das irgendwelche undurchschaubaren Instanzen des kroatischen Verwaltungsrechts durchläuft. Meine Urgroßmutter war nach dem Krieg enteignet worden - und zwar einzig deshalb, weil sie deutschstämmig war, ein Akt kommunistischer Willkür.

Vor mehr als 20 Jahren hat meine Familie die Entschädigung beantragt, als dies nach kroatischen Gesetzen möglich wurde. Doch die Taktik der Behörden scheint zu sein abzuwarten, bis alle Berechtigten der Wiedergutmachung verstorben sind.

Nun ich hoffe, dass ich das Ende dieses Verfahrens doch erlebe; die materielle Entschädigung wird zwar kaum der Rede wert sein. Für mich aber wäre sie ein kleiner Ausgleich der empörenden Ungerechtigkeit, die meiner fleißigen Urgroßmutter widerfuhr – nur weil sie deutsch war und nicht richtig kroatisch sprechen konnte.

Den allzu langen, hoffentlich vorübergehenden Verzicht auf die Staatsbürgerschaft des Landes, in dem ich seit etwa 40 Jahren lebe, muss ich als einen etwas absurden Preis hinnehmen.

Dunja Melčić, geboren 1950 in Kroatien, ist Philosophin und freie Autorin. Seit 1974 lebt Dunja Melčić in Frankfurt, wo sie 1981 über Martin Heidegger promovierte; sie setzt sich besonders mit Themen aus Philosophie und internationaler Politik auseinander - mit dem Akzent auf Südosteuropa. Veröffentlichungen: "Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen" (Hg., 1999, 2007); "Das Denken der Freiheit zwischen gestern und heute. Auf den Spuren Hannah Arendts" (2007); "Jugoslawismus ohne Jugoslawien" (2011).
Dunja Melèiæ
Dunja Melcic© privat