Vergiss, um dich zu erinnern

13.05.2008
Mit der Protagonistin Valerie Kutzer hat Barbara Frischmuth eine moderne Transitreisende geschaffen, der der Orient nicht fremd ist. Sie fliegt zum fünften Mal nach Ägypten, um in Kairo an der Universität Vorträge zu halten. Dort wird sie von den Erinnerungen an ihre Jugendliebe zu dem Ägypter Abbas eingeholt.
Valerie Kutzer ist der Orient nicht fremd. Sie fliegt zum fünften Mal nach Ägypten. Dort wird sie, wie gewohnt, Vorträge an Universitäten halten und bei ihrer Freundin, der Ägypterin Lamis, in Kairo wohnen.

Lamis hat, wie sie, in Wien studiert und ihre Biografien weisen viele Berührungspunkte auf. Valerie glaubt zu wissen, was sie in der Fremde erwartet und doch erfasst sie bereits am Flughafen eine ungewohnte Nervosität. Sie tröstet sich mit dem Argument, das starke Gefühl wäre der Vorfreude geschuldet.

Und sie weiß, dass sie sich damit belügt. Denn "ab einem gewissen Alter sind die Lieben alle geliebt". Und es heißt, sich im Erinnern zu üben.

Valerie beginnt in sicherer Distanz zu Wien, wie die "Lumpensammler auf den Müllbergen von Kairo", in ihrer Vergangenheit herumzustochern. Doch sie weiß nicht, wo sie beginnen soll und fällt in einen Zeitschacht.

Mit der Protagonistin Valerie Kutzer hat die Autorin eine moderne Transitreisende geschaffen, die vor allem an Übergängen interessiert ist und Zwischenräume auslotet. Denn an den "Orten des Übergangs ist die Seele ungeschützt", offen für eine Fülle von Lebensmöglichkeiten und bereit, sich in Frage zu stellen. Ihr Motto lautet: Vergiss, um dich zu erinnern.

Im lauten Stimmengewirr von Kairo verliert sie bald den Boden unter den Füßen. Das Erinnern fällt schwer, wenn sich im Café, im Taxi oder auf der Straße das gegenwärtige Geschehen aller Sinne bemächtigt, die Buntheit orientalischen Treibens plötzlich von einer dicken Staubschicht bedeckt wird, der Hals zu schmerzen beginnt und die Nächte vor Kälte klirren. Die Stadt wird zum Vexierbild, in dem sich alle Geschichten wie in einem Palimpsest (antike Schriftrolle) überlagern.

In die Erinnerungen an die Jugendliebe zu dem Ägypter Abbas schleichen sich die Worte des Mystikers Dhun-Nun al-Misri ein, dem die Bewunderung für die Schöpfung reines Liebesverlangen war. Beim Betrachten eines Hatschepsut-Kopfes in Luxor wird die jahrtausendealte Macht der Königin wieder lebendig und angesichts der "Grabkapellen des Osiris" wird das der Isis nachgesagte, wilde Begehren beredt. Immer mehr nistet sich das alte Ägypten in die eigenen Sehnsüchte und Träume ein.

Mit Valerie hat Barbara Frischmuth eine moderne Transitreisende geschaffen, die vor allem an Übergängen interessiert ist und Zwischenräume auslotet. Denn an den "Orten des Übergangs ist die Seele ungeschützt", offen für eine Fülle von Lebensmöglichkeiten und bereit, sich in Frage zu stellen. Ihr Motto lautet: Vergiss, um dich zu erinnern.

Obwohl die Protagonistin zahlreiche biographische Parallelen zur Autorin aufweist, verkörpert sie jenes fiktionale Prinzip, das einen interessanten Reiseroman auszeichnet. Lesend begibt man sich auf eine Reise, die zwar an konkrete Räumlichkeiten gebunden ist, doch schließlich immer wieder zu Valerie führt. Sie ist das kosmopolitische Zentrum, wo die Ausflüge zwischen Orient und Okzident geplant werden und die Zeiten zusammenlaufen.

Rezensiert von Carola Wiemers

Barbara Frischmuth, Vergiss Ägypten, Ein Reiseroman,
Aufbau Verlag 2008,
220 Seiten, 18,90 Euro.