Vergesst die Streber!

Die zweite Maus holt sich den Käse

04:15 Minuten
Eine Mausefalle mit Käse steht auf einem dunklen Teppich.
Der Volksmund weiß, es ist nicht immer gut, der erste zu sein: Die erste Maus wird von der Falle erschlagen und macht den Weg frei für die zweite. © imago / agefotostock
Gedanken von Paul Stänner · 14.05.2021
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Hochleistungssportler und Spitzenmusiker hat es in der Pandemie am schärfsten getroffen. Stillstand zerstört ihr Potenzial, sie brauchen die permanente Herausforderung. Für andere zeigt sich aber gerade: Mittelweg und Mittelmaß haben ihre Vorteile. 
"In Gefahr und grosser Noth / Bringt der Mittel-Weg den Tod", reimte der schlesische Dichter Friedrich von Logau. Er war spezialisiert auf kurze, gut merkbare Sinngedichte, die Lebenserfahrungen beinhalteten und quasi als Gebrauchsanweisungen für die menschliche Existenz dienen konnten.
Falls jemand von Ihnen beabsichtigt, lange zu leben: Von Logau textete mehrere Tausend solcher Epigramme. Da ist für jede zu erwartende Situation etwas dabei. Der in seinem Metier einzigartige Dichter hat bei vollem Bewusstsein den Dreißigjährigen Krieg durchlebt und dabei mehr Katastrophen gesehen, als sich zu seiner Zeit selbst ein krankes Hirn hätte ausmalen können. Sein Hinweis, dass in Gefahr und Not der Mittelweg den Tod bringe, beruht auf der Kenntnis von Morden, Belagerungen, Hungersnöten und der Pest, der Mutter aller Pandemien.

Ehrgeizige Ziele wurden ausgebremst

So schlimm ist es heute nicht. Aber Corona hat uns in der Breite der Gesellschaft Erfahrungen beschert, die wir so nicht gekannt haben. Viele sind in ihrem Lauf gestoppt worden, für viele hat sich die Perspektive verändert. Das Ziel, im Leben eine ersehnte oder erträumte Position erreichen zu können, ist urplötzlich verdampft. Wir sehen Leistungssportler auf dem Weg zu Medaille, Lorbeer und spitzenmäßig dotierten Werbeverträgen, die in der Pandemie nicht mehr trainieren können. Oder spezialisierte Solomusiker auf höchstem Niveau, die keinen Konzertsaal mehr haben. Sie alle haben keine Fehler gemacht, sondern das Pech gehabt, in einer falschen Epoche zu stecken.
Bislang kannten wir den dramatischen Absturz nur von Leuten, die aus eigener Dummheit auf die schiefe Bahn geraten waren. Wie jene christlichen Bundestagsabgeordneten, die sich in ihren Wahlkreisen als die großen Macher aus dem Dunstkreis von Macht und Einfluss inszenierten, und sich als hemmungslose Egoisten enttarnten, als ihre Wähler in der Pandemie Hilfe und Masken brauchten. Sie stürzten mit einem hässlichen Pfeifgeräusch aus den Höhen der Gesellschaft in die Tonne.
Wir erinnern uns: "Der frühe Vogel fängt den Wurm", predigte der Lehrer in der Schule, die die meisten von uns so lala, mit mittlerem Notendurchschnitt, absolviert haben. Besser als der Lehrer aber wusste es schon immer der Volksmund aus seiner Lebenserfahrung: Vergiss die Streber! Es ist die zweite Maus, die sich den Käse holt. Die erste wird von der Falle erschlagen.

Lieber den breiten Mittelweg gehen als alles auf ein Pferd setzen?

Ist das Gehen auf dem breiten Mittelweg nicht das, was Segen bringt? Und nicht das Laufen auf Messer Schneide? Übertragen auf die gesellschaftliche Ebene beim blutigen Meinungsstreit zwischen Corona-Leugnern und Corona-Vermeidern: Alle sind empört, alle sind selbstüberzeugt, alle sind hasserfüllt und alle sind extrem – mit welchem Zweck?
Wäre das eine Corona-Lehre, dass man sich allein und als Gesellschaft besser auf einem breiten Weg bewegt, der es möglich macht, seine Richtungen zu ändern?
Wir kennen das Problem: Wer einen hohen Sopran oder einen exzeptionellen Bass singt, hat es schwer im Chor – die große Gemeinsamkeit beim Singen entsteht in der mittleren Lage.

Der Spießer als Botschafter der Nachhaltigkeit

Ähnliches gilt für das Wohnen. "Über dem Wasser und Unter dem Wind", lautet der Rat der Architekten. Das ist die mittlere Lage.
Sind wir Spießer, wenn wir so wohnen?
Ja, wahrscheinlich, aber bequem ist es schon. So bequem wie das T-Shirt Größe M, das die meisten von uns tragen. Und sind wir, die wir als Spießer das Extreme von oben und unten verachten, nicht die Botschafter der Nachhaltigkeit, die ja heute sehr geschätzt wird? Der Spießer als die wahre Avantgarde?
Jawohl, so sind wir! Unser Spießer-Motto nach Corona muss also heißen: Nieder mit den Extremen! Für Maß und Mittelweg!

Der Autor und Journalist Paul Stänner wurde in Ahlen in Westfalen geboren, hat in Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte studiert. Er arbeitet als Rundfunkjournalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Agatha Christie in Greenway House".

Paul Stänner
© privat
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