Vergessene Volksplage
Spontane Wutausbrüche sind verbreitet, am Arbeitsplatz, in der Familie oder auf offener Straße. Dennoch wird der Jähzorn kaum thematisiert. In seinem Buch nähert sich der Psychologe Theodor Itten dem Phänomen von verschiedenen Seiten. Psychologische Einsichten verbindet er überzeugend mit Exkursen in die Geschichte von Religion, Mythen, Literatur und Film.
Sind die Schweizer ein jähzorniges Volk? Theodor Itten, Psychologe und Sozialwissenschaftler aus St. Gallen, hat in seiner Heimat eine Umfrage gestartet und legt in diesem Buch die Ergebnisse vor. Von rund 1000 Befragten geben rund ein Viertel zu, schon einmal selbst im Jähzorn gewütet zu haben, fast genauso viele bekennen, das Opfer einer Jähzornsattacke gewesen zu sein, sie sind unflätig beschimpft, mit Gegenständen aller Art beworfen oder auch schwer verprügelt worden.
Wenn das auch keine repräsentative Umfrage war, sondern nur eine statistische Erhebung: Es sieht so aus, als sei der Jähzorn ein weitverbreitetes Phänomen, unter dem viele zu leiden haben, ob nun als Opfer oder auch als Täter. Denn auch Letztere leiden oftmals nach begangener Untat, etwa die Hälfte der bekennenden Täter gab dies zu Protokoll.
Theodor Itten arbeitet auch als Psychotherapeut. Weil er in seinen Lehrbüchern zu wenig gefunden hat in Sachen Therapie des Jähzorns, hat er selber zur Feder gegriffen.
Aber der tiefere Grund für das Interesse des Autors gerade an diesem Thema ist persönlicher Natur. Am Anfang des Buches erzählt uns Itten eine Geschichte aus seiner Kindheit. Er war damals sieben Jahre alt und lebte in Großfamilie auf einem Schweizer Bauernhof. Dort gab es einen Onkel, der gefürchtet war wegen seiner Zornesausbrüche "aus heiterem Himmel", und der siebenjährige Itten wäre beinahe ums Leben gekommen, als ihm sein Onkel in rasender Wut eine Heugabel hinterher geschleudert hat. Später hat Ittens Mutter ihr Kind auch noch zurechtgewiesen. Es habe selbst Schuld, der Onkel sei nun mal ein reizbarer Mann, und er, der Siebenjährige, hätte das doch gewusst.
Es kommt häufig vor, dass sich die Opfer von Jähzorns-Attacken als Schuldige fühlen. Das hat Ittens Befragung bestätigt. Dies, so der Autor, ist natürlich "verkehrte Welt". Die Opfer verlängern auf diese Weise nur ihre Leiden, denn sie verhindern, dass die Täter therapeutische Hilfe suchen.
Theodor Itten ist der festen Überzeugung, dass regelmäßiger Jähzorn in psychotherapeutische Behandlung gehört, denn der Betreffende müsse sich mit den tiefen seelischen Ursachen seines unkontrollierten Affektes beschäftigen. In vielen Fällen sind die jähzornigen Täter in ihrer Kindheit selbst Opfer gewesen. Eigentlich wollten sie ganz anders werden als die gewalttätigen Erwachsenen in ihrer kindlichen Umgebung, aber sie kriegen es nicht hin. Da ist viel Unbewusstes im Spiel, schreibt der Autor, das unbedingt bewusst zu machen ist.
Hier merkt man ganz klar: Itten ist ein Therapeut Freudscher Schule. Für ihn gibt es ohne Psychoanalyse keine echte Heilung. Aber er arbeitet auch mit körpertherapeutischen Mitteln. Einige von Ittens Patienten berichten davon in diesem Buch. Einer schreibt, er habe inzwischen gelernt, sofort die Laufschuhe anzuziehen, wenn er den Anfall kommen spürt, Motto: Joggen ist besser als Prügeln. Seit nunmehr drei Jahren, schreibt er, ist nichts Schlimmes mehr passiert.
Ittens Buch ist leider überfrachtet. Die soziologischen (Studie) und psychotherapeutischen Betrachtungen werden oft und unvermittelt unterbrochen durch kulturhistorische Exkurse. Da geht es plötzlich um den (angeblich) jähzornigen Apostel Paulus und den (tatsächlich) jähzornigen Kaiser Nero, um Jähzorn in den jüdischen Psalmen, den griechischen Tragödien, der römischen Philosophie. Warum ist nicht nachzuvollziehen. Des Autors Eifer, das große Thema Jähzorn erschöpfend und restlos abzuhandeln, überfordert und irritiert seinen Leser.
Dennoch: eine empfehlenswerte Lektüre, was den soziologischen und den psychologischen Part betrifft. Besonders interessant und tatsächlich erschütternd ist es, einmal die Innenperspektive eines Jähzornigen kennenzulernen. Einem von Ittens Patienten ist es nämlich gelungen, uns "das Monster Jähzorn" plastisch vor Augen zu führen, vor dem er sich lange gefürchtet hat, weil nicht er dieses Monster im Griff hatte, sondern umgekehrt. Der Patient beschreibt diese Zustände als "gelegentliche Anfälle von Wahnsinn".
Rezensiert von Susanne Mack
Theodor Itten: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl
Springer Verlag Wien
193 Seiten, 24,95 Euro
Wenn das auch keine repräsentative Umfrage war, sondern nur eine statistische Erhebung: Es sieht so aus, als sei der Jähzorn ein weitverbreitetes Phänomen, unter dem viele zu leiden haben, ob nun als Opfer oder auch als Täter. Denn auch Letztere leiden oftmals nach begangener Untat, etwa die Hälfte der bekennenden Täter gab dies zu Protokoll.
Theodor Itten arbeitet auch als Psychotherapeut. Weil er in seinen Lehrbüchern zu wenig gefunden hat in Sachen Therapie des Jähzorns, hat er selber zur Feder gegriffen.
Aber der tiefere Grund für das Interesse des Autors gerade an diesem Thema ist persönlicher Natur. Am Anfang des Buches erzählt uns Itten eine Geschichte aus seiner Kindheit. Er war damals sieben Jahre alt und lebte in Großfamilie auf einem Schweizer Bauernhof. Dort gab es einen Onkel, der gefürchtet war wegen seiner Zornesausbrüche "aus heiterem Himmel", und der siebenjährige Itten wäre beinahe ums Leben gekommen, als ihm sein Onkel in rasender Wut eine Heugabel hinterher geschleudert hat. Später hat Ittens Mutter ihr Kind auch noch zurechtgewiesen. Es habe selbst Schuld, der Onkel sei nun mal ein reizbarer Mann, und er, der Siebenjährige, hätte das doch gewusst.
Es kommt häufig vor, dass sich die Opfer von Jähzorns-Attacken als Schuldige fühlen. Das hat Ittens Befragung bestätigt. Dies, so der Autor, ist natürlich "verkehrte Welt". Die Opfer verlängern auf diese Weise nur ihre Leiden, denn sie verhindern, dass die Täter therapeutische Hilfe suchen.
Theodor Itten ist der festen Überzeugung, dass regelmäßiger Jähzorn in psychotherapeutische Behandlung gehört, denn der Betreffende müsse sich mit den tiefen seelischen Ursachen seines unkontrollierten Affektes beschäftigen. In vielen Fällen sind die jähzornigen Täter in ihrer Kindheit selbst Opfer gewesen. Eigentlich wollten sie ganz anders werden als die gewalttätigen Erwachsenen in ihrer kindlichen Umgebung, aber sie kriegen es nicht hin. Da ist viel Unbewusstes im Spiel, schreibt der Autor, das unbedingt bewusst zu machen ist.
Hier merkt man ganz klar: Itten ist ein Therapeut Freudscher Schule. Für ihn gibt es ohne Psychoanalyse keine echte Heilung. Aber er arbeitet auch mit körpertherapeutischen Mitteln. Einige von Ittens Patienten berichten davon in diesem Buch. Einer schreibt, er habe inzwischen gelernt, sofort die Laufschuhe anzuziehen, wenn er den Anfall kommen spürt, Motto: Joggen ist besser als Prügeln. Seit nunmehr drei Jahren, schreibt er, ist nichts Schlimmes mehr passiert.
Ittens Buch ist leider überfrachtet. Die soziologischen (Studie) und psychotherapeutischen Betrachtungen werden oft und unvermittelt unterbrochen durch kulturhistorische Exkurse. Da geht es plötzlich um den (angeblich) jähzornigen Apostel Paulus und den (tatsächlich) jähzornigen Kaiser Nero, um Jähzorn in den jüdischen Psalmen, den griechischen Tragödien, der römischen Philosophie. Warum ist nicht nachzuvollziehen. Des Autors Eifer, das große Thema Jähzorn erschöpfend und restlos abzuhandeln, überfordert und irritiert seinen Leser.
Dennoch: eine empfehlenswerte Lektüre, was den soziologischen und den psychologischen Part betrifft. Besonders interessant und tatsächlich erschütternd ist es, einmal die Innenperspektive eines Jähzornigen kennenzulernen. Einem von Ittens Patienten ist es nämlich gelungen, uns "das Monster Jähzorn" plastisch vor Augen zu führen, vor dem er sich lange gefürchtet hat, weil nicht er dieses Monster im Griff hatte, sondern umgekehrt. Der Patient beschreibt diese Zustände als "gelegentliche Anfälle von Wahnsinn".
Rezensiert von Susanne Mack
Theodor Itten: Jähzorn. Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl
Springer Verlag Wien
193 Seiten, 24,95 Euro