Vergessene Tragödie

Endstation Schwarzes Meer

Von Barbara Lehmann · 06.01.2014
In Sotschi starben 1864 durch russische Truppen Hunderttausende Tscherkessen. Seitdem sind sie ohne eigenes Land. Vor Ort erinnert nichts daran, auch bei Olympia soll diese ursprüngliche Bevölkerung keine Rolle spielen.
Die Quellen sind bekannt. Der tscherkessische Historiker Almir Abregow, bis vor kurzem Leiter des Historischen Museums in Maikop, der Hauptstadt der russischen Republik Adygeja, hat sie immer wieder studiert und gesammelt.
"Die Anerkennung des russischen Genozids an den Tscherkessen und die Deportation unseres Volkes vor 150 Jahren in die Türkei war für uns eigentlich kein Thema mehr. Unter den Tscherkessen ist es bekannt, sie haben es verinnerlicht, es ist ein Teil unserer Geschichte. Putin hat in den letzten vier Jahren in seinen Reden zu Olympia die Tscherkessen mit keiner Silbe erwähnt. Als Ureinwohner der Region präsentierte er beispielsweise die alten Griechen. Das hat die Tscherkessen empört – sie haben es als Beleidigung empfunden.“
Es war im April 1864. Die russischen Truppen marschierten weiter, unaufhaltsam. Im Gebiet von Sotschi verschanzten sich die letzten tscherkessischen Kämpfer. Vier Tage lang, vom 7.-11. Mai 1864, hielten sie stand. Dann spien die russischen Kanonen Eisen und Feuer. Keiner der Verteidiger blieb am Leben.
Eine Woche später ließ Großfürst Michail Romanow, der Bruder des Zaren, seine Truppen in Kbaade, dem heutigen Krasnaja Poljana, zu einer Parade und einem Dankgebet antreten. Es folgte von Sotschi aus die Deportation des ganzen Volkes: ein Exodus über das Schwarze Meer, bei dem Hunderttausende starben.
Krieg gegen die Zivilbevölkerung
Seit dieser Zeit, so schreibt der Journalist Manfred Quiring in seinem gerade erschienenen Buch "Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen", weigern sich die Tscherkessen, Fisch aus dem Schwarzen Meer zu essen, in dem so viele ihrer Ahnen starben. Dazu auch Almir Abregov:
"Im Gegensatz zu den europäischen Kriegen fanden die kaukasischen Kriege außerhalb der Gesetze statt. Es ging nicht nur um einen Kampf zwischen Soldaten, die Russen führten vielmehr Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Sie wollten unser Volk vernichten. Es war eine Politik der verbrannten Erde. Die Folge ist eine in alle Winde verstreute Nation. Wie viele es sind, weiß keiner, die Schätzungen reichen von drei bis fünf Millionen. Nur noch 700.000 Tscherkessen leben in Russland, verteilt über drei Republiken der russischen Förderation. Wir sind ein Volk ohne Land. Und ich habe keine Hoffnung, dass sich an diesem Zustand etwas ändert.“
Krasnaja Poljana heute: Grandhotels, Überwachungskameras, Bob- und Rodelbahnen, Skilifte, Sprungschanzen. Dort, wo die Tscherkessen vor 150 Jahren ihren letzten verzweifelten Kampf ausfochten, ist nun innerhalb kürzester Zeit ein exklusiver Winterski-Ort empor gewachsen. Nach dem Ende der olympischen Spiele, so erträumen es sich die Erbauer, soll er sich in ein zukünftiges St. Moritz des Ostens verwandeln. Kein Museum, kein Mahnmal, nicht mal eine Gedenktafel erinnert hier an die letzte Schlacht des Kaukasischen Krieges und die Ureinwohner, die Ubychen. Einzig ein Kriegerdenkmal zeugt vom Großen Vaterländischen Krieg und dem Sieg der Russen über die deutsche Wehrmacht.
In Sotschi selber, ubychisch Schetsch, dort, wo einst das tscherkessische Parlament, die Medschlis tagte, weshalb die Tscherkessen Sotschi als ihre letzte Hauptstadt betrachten, ist auf der offiziellen Webseite der Stadt keine Erinnerung an den Völkermord zu finden. Dort leben auch keine Ubychen mehr. Der tscherkessische Historiker Almir Abgregov hegt den Verdacht, dass die russische Obrigkeit die Angehörigen seines Volkes bewusst aus der Region fernhält.
"Kürzlich hat man zehn bis elf Aktivisten der No-Sotschi-Bewegung, die gegen die olympischen Spiele sind, in Kabardino-Tscherkessien und in Adygeja festgehalten. Diese jungen Leute setzen sich dafür ein, dass der Genozid an den Tscherkessen durch die Russen endlich anerkannt wird. Sie sind auch dagegen, dass die Spiele ausgerechnet in Sotschi und Krasnaja Poljana stattfinden, also dort, wo der Genozid an unserem Volk verübt wurde.
Einschüchterung von No-Sotschi-Aktivisten
Die Aktivisten wurden nach Krasnodar gebracht und verhört. Sie wurden beschuldigt, mit radikalen moslemischen Gruppen in Verbindung zu stehen – aber das war nur ein Vorwand. Sie haben überhaupt keine Beziehung zu ihnen. In Wirklichkeit sollten sie erschreckt und eingeschüchtert werden. Man will nicht, dass sie und andere in Zusammenhang mit den olympischen Spielen die Fragen des Völkermords an den Tscherkessen thematisieren.“
Es gibt unter den Tscherkessen eine Fraktion pro Sotschi, vor allem in Russland, wo man gezwungenermaßen mit den Machthabern kooperieren muss. Hier gibt man sich diplomatisch in der Hoffnung, dass die Spiele an ihr vergessenes Volk erinnern mögen. Weder auf Seiten der russischen Regierung noch des IOC hat man auf ihre Gesuche reagiert, die Tscherkessen an den Spielen zu beteiligen. Und es gibt eine Fraktion No-Sotschi, die sich vor allem in der Diaspora befindet und die Winterspiele kategorisch ablehnt.
Und dann gibt es auch noch den Führer des kaukasischen Emirats, Doku Umarow. Der Tschetschene, dessen Vater die Russen ermordeten, nachdem der Sohn sich ihnen nicht ausgeliefert hatte, droht jene, die Olympia auf den "Knochen unserer Ahnen“ ausrichten, mit Attentaten zu bestrafen. Unter der Flagge des Dschihads vereint er die Kinder der kaukasischen Kriege und der Diaspora, auch solche, die sich bereits an der globalen islamistischen Front, so auch in Syrien, erprobt haben. Sie machen Ernst - wie die Selbstmordattentate in Wolgograd jüngst gezeigt haben.
Der Countdown läuft. Und die ganze Welt schaut zu.
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