Vergebung oder Verdammung?

Wie Jugendsünden uns herausfordern

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Der Schriftzug "Ich will Sünde!" ist auf eine Mauer gesprüht.
Was einem im Augenblick des Tuns als Mittelpunkt der Welt erscheint, kann man später bereuen und vergessen machen wollen, meint Daniel Hornuff. © imago images / imagebroker
Überlegungen von Daniel Hornuff · 30.09.2021
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Von Tattoo bis Aktivismus: Wie distanziert man sich glaubhaft von demjenigen, der man einmal war? Muss man es überhaupt? Kein einfaches Feld, meint der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff, denn es gibt mehrere Perspektiven auf "Sünden" von früher.
Man bereut sie. Manche schämen sich für sie, wollen sie vergessen machen. Andere entwickeln ein ironisches Verhältnis und beginnen, mit ihnen zu kokettieren. Und wieder anderen werden sie zum biografischen Verhängnis – zu einem Makel, der sich nicht mehr abstreifen lässt.
Die Rede ist von sogenannten Jugendsünden. Ihr Merkmal besteht darin, erst später zu einer Sünde geworden zu sein. Im Moment des jugendlichen Handelns mögen sie zwar schon unangebracht, verwerflich oder sogar strafbar gewesen sein.
Doch damals war davon kaum etwas zu spüren, im Gegenteil: Das eigene Verhalten erschien als das einzig legitime. Man richtete an sich – und vielleicht auch an andere – den Anspruch auf Unbedingtheit.

Doppelt attraktive Lebensmomente

Jugendsünden sind doppelt attraktiv. Zum einen für tatsächliche oder vermeintliche Jugendliche, die etwas tun, was ihnen im Augenblick des Tuns als Mittelpunkt der Welt erscheint.
Die Palette reicht vom Piercing bis zur Demoteilnahme, vom Haarschnitt bis zum Parteieintritt, vom Tattoo bis zum politischen Aktivismus, vom Instagram-Post bis zum ersten veröffentlichten Text. All dies birgt Potenzial für spätere Irritationen.
Jugendsünden eignen sich daher auch, nachträgliche Urteile über Personen zu fällen – das macht sie für andere attraktiv: Wer damals dieses und jenes getan habe, könne doch heute keine vollständige Akzeptanz mehr einfordern.
Von Jugendsünden sprechen dabei allerdings weniger die Urteilenden als diejenigen, die sich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert sehen. Es sei halt nur eine Jugendsünde gewesen, hört man oft. So wird das eigene Verhalten in den Bereich des Naiv-Unbedachten geschoben.

Folgt nicht auf eine Sünde stets Vergebung?

An die christlich konnotierte Rede von der Jugendsünde bindet sich umso mehr die Hoffnung auf Vergebung. Gerade weil keine Sünden im umfassenden Sinne vorliegen, sondern eben nur ein jugendliches Verhalten, solle mit ihm nachsichtig umgegangen werden.
Mit dem Verweis auf eine bloße Jugendsünde will man Kürze und Nebensächlichkeit der heute als falsch erscheinenden Lebensweise betonen – und zugleich dafür sorgen, dass aus ihr keine Langzeitfolgen abgeleitet werden.
Marginalisierung durch Verniedlichung mag psychologisch naheliegend sein. Tatsächlich aber verpasst, wer dazu greift, die Chance, in eine produktive Auseinandersetzung mit früheren Überzeugungen, Vorlieben und Werten zu treten. Denn die oft hitzig geführten Debatten über mutmaßliche Jugendsünden speisen sich auch aus dem Bedürfnis, Koordinaten für das gegenwärtige Zusammenleben zu finden.
Klar ist: Wer im Rückblick Schuld bemessen möchte, arbeitet an der aktuellen Verfestigung moralischer Normen. Umso wichtiger wäre es, angebliche Jugendsünden auf zwei Ebenen zu diskutieren – und erstens zu fragen: Welcher Sachverhalt steht tatsächlich zur Debatte? Und zweitens: Was bedeutet es, diesen Sachverhalt heute zum Thema zu machen?

Wer andere verurteilt, verfolgt auch eigene Ziele

Diese zweite Ebene ist wichtig, weil moralische Urteile im öffentlichen Raum kaum ohne spezifische Interessen auskommen.
So ließe sich noch differenzierter fragen: Von welcher Position aus und mit welchem Ziel wird über frühere Entscheidungen einer Person geurteilt? Zielen die Vorwürfe auf die Person selbst, geht also ums Diskreditieren im Hier und Jetzt? Oder macht das frühe Verhalten der Person seinerseits auf gesellschaftliche Konflikte aufmerksam, die bislang verdrängt wurden?
Wer sich anschickt, über das jugendliche Verhalten anderer Menschen zu urteilen, begibt sich auf ethisch fragiles Terrain. Eine biografische Anklage sollte daher zumindest auch einen Blick auf eigene Verstrickungen miteinschließen.

Daniel Hornuff ist Professor für Theorie und Praxis der Gestaltung an der Kunsthochschule in der Universität Kassel. Zuletzt erschienen von ihm "Hassbilder. Gewalt posten, Erniedrigung liken, Feindschaft teilen" im Verlag Klaus Wagenbach sowie "Krass! Beauty-OPs und Soziale Medien" bei J.B. Metzler.

Porträt von Daniel Hornuff
© Felix Grünschloß
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