Verführung, Trennung, Erinnerung

Im Erzählband "Immer ich" schildert Alissa Walser Schwebezustände und unklare Gefühlslagen im Verhältnis der Geschlechter. Zwischen Yoga-Kurs und Pornokino wird ihre Prosa von unauflösbaren Widersprüchen vorangetrieben.
"Nur nie Wurzeln schlagen, und nie was kappen müssen", sagt eine der weiblichen Heldinnen in Alissa Walsers neuem Erzählungsband "Immer ich". Sich binden, sich festlegen, sesshaft werden – das wäre ihnen eine unangenehme Perspektive.

Zugleich aber sehnen sie sich nach Beziehungen, die vielleicht doch etwas länger dauern als nur einen Augenblick. Sie sind Einzelgängerinnen, aber allesamt auf Männer orientiert – oder vielmehr auf ihr eigenes Begehren, ihre Lust, ihre Bedürftigkeit. Wie funktioniert das dann aber zwischen Frau und Mann, wenn Bindungslose sich binden?

Dieser unauflösbare emotionale Widerspruch treibt Alissa Walsers Frauenfiguren um und ihre Prosatexte voran. Nach dem großartigen historischen Roman "Am Anfang war die Nacht Musik" um den Magnetiseur und Heilkünstler Franz Anton Mesmer knüpft sie damit wieder an Thematik und Form des Kurzgeschichtenbandes "Die kleinere Hälfte der Welt" an.

Der soziologisch-technische Begriff der "Geschlechterverhältnisse" ist ihrer poetischen Sprache zwar ganz und gar unangemessen, und trifft doch sehr konkret zu. "Ich mag das Samtige am männlichen Geschlecht und am Weiblichen das Seidige", lautet ein Satz, den sich eine dieser Frauen unter der Rubrik "Was ich vermissen werde, wenn ich tot bin" in ihr Notizbuch schreibt.

Da schickt eine Frau ihren Geliebten ins Pornokino, damit er dort "etwas über Deutschland lernt". Eine andere entspannt im Yoga-Kurs, bewundert die muskuläre Wohlgeformtheit des Lehrers und denkt über ein Telefongespräch nach, das sie mit ihrem Ex-Geliebten führte, während der momentane Lebenspartner verzweifelt mit den Fäusten auf die Wand einschlug.

Der Ex-Geliebte wartet in einer anderen Geschichte am Bahnhof auf eine Frau, mit der er per Anzeige Kontakt aufgenommen hat. Er wird sie wohl nicht erkennen, und denkt unterdessen an seinen letzten Besuch bei der, die er zurückließ und dem gemeinsamen kleinen Sohn nach. So überlagern sich die Zeiten und die Zustände – Verführung, Trennung, Erinnerung. Sie sind nur miteinander zu haben.

Vorzugsweise handelt es sich um Künstlerinnen, um Designerinnen oder Fotografinnen. Eine Geschichte dreht sich um die impressionistische Malerin Berthe Morisot, die mit Edouard Manet befreundet war und dessen Bruder Eugene heiratete. Die impressionistische Malweise und die Übungen, die sie dorthin führen, beschreiben vielleicht auch den Stil Alissa Walsers: "Wir üben Schraffieren. Schräge Striche und schräge Striche, monatelang."

Unschärfen, Schwebezustände, unklare Gefühlslagen: darum geht es. Und um das Problem, das Berthe Morisot beschäftigt: "Wie malt man Zeit? Wie man einen Blick zurück malt? Wie festhalten, was nie anhält? Ist es nicht besser, etwas zu malen, wie es verschwindet?"

Das Erotische ist die große Attraktion, eben etwas, was da ist und immer verschwindet, wenn man es festhalten will. Alissa Walser ist eine Meisterin darin, Sexualität zu schildern, ohne peinlich direkt oder peinlich verzuckert zu werden. Sexuelle Begegnungen sind in ihren Geschichten Zwischenzustände, die aus dem Alltag herausfallen, weil sie die Illusion einer Zusammengehörigkeit erzeugen. Dabei wissen die Beteiligten aber jederzeit, dass es sich um eine Illusion handelt.

Vielleicht liegt es daran, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, es mit lauter Verlorenen zu tun zu haben. Oder mit Menschen, die ihr Leben bloß träumen. In den Bildern, die dabei entstehen, sind sie aber ganz genau und mit allen Sinnen beteiligt.

Besprochen von Jörg Magenau

Alissa Walser: Immer ich
Erzählung
Piper Verlag, München 2011
158 Seiten, 16,95 Euro
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