Verführerische Ruhe

Ein lyrisches Ich registriert ein zartes Lichtspiel: Häufig ist es äußerst still in den Gedichten, die Nico Bleutge in dem Band "fallstreifen" vorlegt. Mit seinem zweiten Gedichtband hat der 1972 in München geborene Autor, der 2006 mit dem Gedichtband "klare konturen" debütierte, bewiesen, dass er nicht mehr länger nur zu den außergewöhnlichen Talenten seiner Generation zählt. Ecce poeta!
Häufig ist es äußerst still in den Gedichten, die Nico Bleutge in dem Band "fallstreifen" vorlegt. Ein lyrisches Ich registriert ein zartes Lichtspiel oder merkt auf, wenn ein leises Knistern an das hellhörige Ohr dringt. Blicke durchsuchen Landschaften, sie tasten sich behutsam in Gegenden vor und verweilen lange dort, wo sich Linien abzeichnen und leichte Wölbungen hervortreten. Manchmal irritiert ein Weißton das Auge. Es herrscht in diesen Gedichten eine verführerische Ruhe.

Ganz unaufdringlich wählt das lyrische Ich Perspektiven aus, die sich an winzigen Erscheinungen festmachen. Nichts Spektakuläres ereignet sich. Das "stumme sitzen", von dem das Gedicht "aufgeblitzt" spricht, scheint programmatisch für Bleutges neue Verse zu sein. Er lässt die Augen zu Sammlern werden und gestattet ihnen die Freiheit, sich zu nehmen, was sie interessiert.

Doch strebt dieses Erkunden nicht nach Besitz, sondern gefeiert wird der Augenblick des Sehens. "Aufgeblitzt" ist auch der Titel des ersten von insgesamt sieben Teilen, die mit einem Minimum an Aktion auskommen. Dafür finden sich immer wieder Verweise auf Hand, Haut, Blick und Bild.

In den Räumen, die Bleutge in den ersten sieben Gedichten entwirft, passiert scheinbar nichts und dennoch herrscht in ihnen eine einzigartige, hochartifizielle Spannung. Das Wenige, was die Augen als Ertrag mitgebringen, reicht bis auf "die knochen" und wird als ein "ziehen der glieder" erfahren.

Der sieben Kapitel aufweisende Band ist klug und äußerst einfühlsam komponiert. Nachdem im ersten Teil Räume der Stille erkundet werden, öffnen sich mit dem Gedicht "dann, gegen mittag", dem ersten, des mit "luft" überschriebenen zweiten Teils, die Fenster zur geschäftigen Außenwelt:

"dann gegen mittag, kommen die ersten / geräusche von der straße herauf, das klopfen von händen / auf stoff, die schnellen kinderstimmen. im gelände / zwischen den wohnblocks."

Dass die Luft dem lyrischen Ich diese Geräuschkulisse nicht erspart, sieht er ihr nach. Denn er verdankt der großen Bewegerin auf der anderen Seite Wolkenformationen und das Schauspiel von Wellenbewegungen am Meer. Angetrieben von "erkundungen / in der luft", wie es in dem Gedicht "stadküste" heißt, schaut sich Bleutge mit Vorliebe in Gegenden um, die kaum etwas herzugeben versprechen. Umso erstaunlicher sind seine lyrischen Erträge.

Wenn dem "stummen sitzen" des anfangs erwähnten Gedichts ein gelassenes Unterwegssein folgt: "bin wieder unterwegs in die Steppe", wie es in "karbid" heißt, dann wird in "glas" - "und langsam nur geht aus und wieder ein / was in die brennspiegel fällt, in seine augen" wieder Kontakt zu den erkundenden Augen hergestellt.

Auf der Zitat-Ebene knüpft Bleutge in seinen Gedichten Kontakte zu Autoren wie Gunnar Ekelöf, Walter Benjamin, H.C. Artmann, Michael Hamburger oder Walter Kempowski. Die Berührungsstellen sind unscheinbar. Wie eingefroren liegen Zitate der schreibenden Kollegen in Bleutges Gedichten. Sie sind aufgehoben und eröffnen zugleich auch neue Räume, indem sie in Beziehung treten. Es handelt sich um Einladungen zum Gespräch.

Mit seinem zweiten Gedichtband hat der 1972 in München geborene Autor, der 2006 mit dem Gedichtband "klare konturen" debütierte, bewiesen, dass er nicht mehr länger nur zu den außergewöhnlichen Talenten seiner Generation zählt. Ecce poeta!

Rezensiert von Michael Opitz

Nico Bleutge: fallstreifen
Gedichte,
Verlag C.H.Beck, München 2008,
79 Seiten, 12,90 Euro