Neue Verfassung für Chile

Kampf mit Pinochets Schatten

22:45 Minuten
Zwei Personen hängen ein großes Plakat mit dem Bild von Augusto Pinochet ein Geländer hinrunter.
Die Chilen:innen sind mit der Aufarbeitung der Ära Pinochet noch lange nicht fertig. Eine neue Verfassung ist nur ein erster Schritt. © imago images / Aton Chile / CHRISTIAN IGLESIAS / ATON CHILE via www.imago-images.de
Anne Herrberg im Gespräch mit Isabella Kolar |
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Die Chilen:innen stimmen über eine neue Verfassung ab. Die aktuelle stammt noch aus der Zeit von Diktator Pinochet. Das Referendum war eine Forderung auf den Massenprotesten, die vor drei Jahren Chile erschütterten. Doch nicht alle freuen sich.
"Es passiert gerade etwas Historisches in Chile", sagt unsere Korrespondentin Anne Herrberg, die das Land seit Jahren regelmäßig bereist. "Die Chileninnen und Chilenen stimmen über die modernste und fortschrittlichste Verfassung ab, die es derzeit in der Welt gibt."
Und würden – einen Erfolg vorausgesetzt – damit auch das schwere Erbe der Pinochet-Diktatur abschütteln.

Das Ziel: eine demokratische Verfassung

Die alte Verfassung existiert seit 1980. Für das demokratische Land Chile war es immer ein Problem, eine Verfassung zu haben, die in einer Diktatur entstanden ist. Legitimiert wurde dies durch ein lang anhaltendes Wirtschaftswachstum, das durch die Verfassung mit generiert wurde.
Doch tatsächlich profitierte nur eine kleine privilegierte Gruppe vom Wirtschaftswachstum, konstatiert unsere Südamerika-Expertin. Denn in der Verfassung sei ein "radikal-neoliberales" Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell verankert. Die soziale Verantwortung des Staates wurde auf ein Minimum beschränkt, und ökonomische Freiheit habe mehr Gewicht als die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger.
Im Ergebnis sei das angebliche Vorzeigeland Chile gleichzeitig auch eines der sozial ungleichsten Länder in Südamerika. Dagegen richteten sich auch die Proteste 2019.

Alles begann vor drei Jahren

Damals fanden die größten Massendemonstrationen in Chile seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet statt. Es kam zu blutigen Zusammenstößen. Die Protestierenden forderten einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in Chile und eine entsprechende neue Verfassung.
Blick auf Abgeordnete in einem runden nach unten abfallenden Parlamentssaal aus dunklem Holz.
Euphorie mit nachlassender Tendenz: Im Verfassungskonvent versammelten sich zwei Jahren lang vor allem Vertreter linker und progressiver Gruppen Chiles.© imago images / Agencia EFE / Alberto Valdes via www.imago-images.de
Dem Staat werde künftig eine stärkere Rolle zugeschrieben, gerade in Schlüsselbereichen wie Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge, sagt Herrberg: "Die neue Verfassung soll Chile in einen sozial gerechteren Staat verwandeln. Da sind viele Ideen drin, die man aus deutscher Sicht einfach als sozialdemokratisch beschreiben kann."

Einzigartig: Umweltschutz hat Verfassungsrang

Die einzelnen Regionen sollen außerdem mehr politisches Gewicht bekommen und die Verfassung nimmt – weltweit einzigartig – erstmals die ökologischen Herausforderungen in den Blick. Im Gegensatz zum bisherigen Mantra der uneingeschränkten Ausbeutung von Rohstoffen steht der neue Verfassungsgrundsatz: Wirtschaftliche Entwicklung darf nicht mehr auf Kosten der Natur gehen.
Weitere Schwerpunkte der neuen Verfassung: Chile bezeichnet sich darin als Vielvölkerstaat. Die Indigenen sollen Autonomierechte bekommen und auch Geschlechtergerechtigkeit ist ein Thema.

Zu links, zu aktivistisch, zu utopisch

Von rechts der Mitte wird jetzt aber scharfe Kritik laut. Zu links, zu aktivistisch und zu utopisch, so heißt es. Die Euphorie und der Wille zur Veränderung, die sich vor drei Jahren in den Massenprotesten niederschlugen, hätten mittlerweile abgenommen, so Anne Herrberg.
Viele Menschen mit chilenischen Fahnen und roten T-Shirts auf denen hinten "Nein" steht versammeln sich in großen Ansammlungen.
Protest statt Euphorie: Immer wieder versammeln sich Chileninnen und Chilenen, wie hier im August in Santiago, um gegen die neue Verfassung zu demonstrieren.© IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Matias Basualdo
Heute dominieren, auch infolge der Pandemie, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des ganzen Landes und jedes Einzelnen. So seien beispielsweise Inflation und Kriminalität deutlich gestiegen.
Dementsprechend sind die Zustimmungswerte für eine neue Verfassung in den Umfragen seit Beginn des Jahres deutlich gefallen.
Ein Mann mit dunklem Vollbart steht im dunklen Mantel vor zwei Mikrofonen und hebt Hände samt Zeigefinger.
Links und progressiv: In der neuen Verfassung finden sich viele Programmpunkte von Präsident Boric wieder. Wird sie abgelehnt, muss er sich Gedanken machen.© IMAGO / Aton Chile / IMAGO / MARCELO HERNANDEZ / ATON CHILE
Im Dezember wurde der 36-jährige Linkspolitiker Gabriel Boric zum Präsidenten Chiles gewählt. Er verband sein Schicksal deutlich mit einer neuen Verfassung. Würde diese also nun abgelehnt, bedeute dies eine große Niederlage für die Regierung Boric, so Herrberg.
Doch auch wenn das Referendums am Sonntag (4.9.2022) scheitern würde: So oder so werde Chile eine neue Verfassung bekommen, meint Herrberg. Es sei lediglich eine Frage der Zeit.
(ik)
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