Verdammt oder verstanden

Von Michael Hollenbach · 20.11.2010
Die Kirchen haben sich lange Zeit schwer getan mit dem Suizid eines Menschen. Es ist noch nicht so lange her, da verweigerten die Kirchen den als Selbstmörder diffamierten Menschen eine christliche Bestattung.
Der Vorwurf: Sie hatten das von Gott geschenkte Leben vernichtet – ein Vorwurf, der sich auch im Judentum und Islam findet. Doch mittlerweile hat sich in allen monotheistischen Religionen ein Sinneswandel durchgesetzt, wie Michael Hollenbach berichtet:

"Liebe Trauergemeinde, wenn du durch einen Sturm gehst, gehe erhobenen Hauptes, und habe keine Angst vor der Dunkelheit, geh weiter, mit Hoffnung in deinem Herzen, du wirst niemals alleine gehen, you’ll never walk alone."

An das Lied, das in den Stadien oft von den Fans gesungen wird, erinnerte die damalige Bischöfin Margot Käßmann bei der Trauerfeier für den Fußballer Robert Enke, der sich am 10. November vergangenen Jahres das Leben nahm.

"Es ist jetzt Zeit der Trauer für einen Menschen, der vielen Jugendlichen und vielen Erwachsenen viel bedeutet hat."

Tausende sind gekommen, um von dem Nationaltorwart, der sich am Abend zuvor vor einen Zug geworfen hat, Abschied zu nehmen. Die Kirche bietet einen Raum, um zu trauern – um einen Suizidenten. Das wäre lange Zeit unvorstellbar gewesen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weigerte sich die Kirche sogar, Menschen, die sich selbst getötet hatten, überhaupt kirchlich zu bestatten.

Dabei finden sich in der Bibel wenige Aussagen zum Thema Suizid; im Neuen Testament lediglich zwei Stellen: die eine im Johannes-Evangelium:

Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Und die andere Stelle – im Matthäus-Evangelium – verweist auf das Schicksal des Judas, der sich nach seinem Verrat erhängte.
Die Haltung des frühen Christentums war ursprünglich gar nicht so ablehnend gegenüber dem Suizid.

"Überraschenderweise ist die erste Einstellung zum Suizid durchaus positiv, man mag es kaum erwarten, aber die Martyrien, vor allem der Frauen, die sich durch Suizid dem eigentlichen Martyrium entzogen, war hoch angesehen in der Kirche."

Volker Bier verweist auf die zahlreichen Christen, die im römischen Reich in den ersten beiden Jahrhunderten wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet wurden. Der Pfarrer und Pastoralseelsorger aus Saarbrücken betont, dass sich erst Anfang des 5. Jahrhunderts mit dem Kirchenvater Augustin eine grundsätzliche Ablehnung des sogenannten Selbstmordes herauskristallisierte: Das Leben als ein Geschenk Gottes dürfe der Mensch nicht eigenmächtig verwerfen.

Mit dem Verweis auf den "feigen Verräter" Judas und auf das christliche Gebot "Du sollst nicht töten" wurde die Diskriminierung der Selbstmörder Schritt für Schritt verschärft. Die Konzilien des 6. Jahrhunderts beschlossen, dass Suizidenten - posthum - exkommuniziert und nicht kirchlich bestattet werden durften. Und im 12. Jahrhundert erklärte die Kirche den Suizid zur Todsünde.

Rainer Sörries, Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, verweist darauf, dass aber auch im Mittelalter differenziert wurde, warum sich jemand das Leben nahm.

"Eine Selbsttötung aus Verzweiflung, das betrachtete man als Sünde, weil dem Menschen das Gottvertrauen fehlte; man hat aber doch auch schon erkannt, dass es so etwas gibt wie - wir würden heute sagen Depression, früher sagte man Melancholie, und das hielt man für ein unter Umständen verzeihbares Verbrechen, eine verzeihbare Sünde, und hat diese Menschen auch wiederum regelrecht bestattet."

"Und dann bietet das Mittelalter natürlich eine Fülle von magischen Ritualen, die Leichen wurden im Sarg festgenagelt, mit Dornen belegt, es wurden Nägel in die Füße hineingetrieben."

"Der so posthum noch mal Hingerichtete sollte nicht mehr die Kraft haben, um aus dem Grab aufzustehen, denn verbunden mit dem Gedanken des Selbstmordes war die Überzeugung, dass gerade Selbstmörder zu gefährlichen Wiedergängern werden können, die die Lebenden in ihren eigenen Tod nach sich ziehen können. Deshalb diese Bestrafung."

Der Anstoß, Suizidenten würdig zu bestatten, kam nicht von kirchlicher Seite, sondern durch die Aufklärung und in Deutschland auch durch den preußischen Staat:

"Im Allgemeinen Preußischen Landrecht wurde dann 1794 diese Diskriminierung des Selbstmörders untersagt und ihnen ein ehrliches Begräbnis auf dem Friedhof zugestanden."

Die Kirchen brauchten noch einmal gut 100 Jahre, bis auch sie die diskriminierende Haltung langsam aufgaben. Nach dem vatikanischen Kirchenrecht von 1917 konnte der Suizid noch immer dazu führen, dass der Verstorbene nicht kirchlich bestattet wurde.

Im jüdischen Glauben wird der Suizid abgelehnt, sagt die Frankfurter Rabbinerin Elisa Klappheck:

"Es gibt ja die halachische, also die traditionell-orthodoxe Regel, dass es für so jemanden, der sich selbst getötet hat, kein jüdisches Begräbnis gibt. Das ist heute bei den liberalen Juden nicht mehr so. Wer sich selbst getötet hat, bekommt ein Begräbnis und es wird auch in der Rede auf den Toten benannt, die Gründe, was dazu geführt hat."

Allerdings – zum Teil werden in orthodoxen jüdischen Gemeinden noch heute jenen Menschen, die sich selbst getötet haben, die traditionellen Trauerriten verwehrt.

Im Islam ist der Suizid eine schwere Sünde, denn laut Koran hat nur Gott das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Ob ein Mensch, der sich selbst das Leben genommen hat, nach religiösem Ritus bestattet werden darf, ist durchaus umstritten, sagt der Osnabrücker Religionswissenschaftler Rauf Ceylan. Dagegen sind sich – bis auf radikale Islamisten – beim Thema Selbstmordattentate alle einig:

"Die großen Gelehrten haben eindeutig gesagt, dass es nicht erlaubt ist, dass es unislamisch ist, dass Suizid-Attentate nicht erlaubt sind."

Im Christentum hat sich erst in den vergangenen gut 80 Jahren eine veränderte Sicht auf den Suizid durchgesetzt, sagt der Saarbrücker Pastoralseelsorger Volker Bier:

"Die eigentliche Veränderung ist in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden, mit der Seelsorgebewegung kam plötzlich der Mensch in den Mittelpunkt und nicht mehr das Gesetz."

Dass der Mensch mehr in den Mittelpunkt rückte, dazu mögen auch die Erfahrungen im Nationalsozialismus beigetragen haben – so zum Beispiel beim Suizid von Jochen Klepper. Der evangelische Liederdichter und Schriftsteller war mit der Jüdin Johanna Stein verheiratet. 1942 wurde der Druck immer größer, dass Kleppers Frau und Tochter ins KZ deportiert werden sollten.
"Jochen Klepper ist ein Paradebeispiel dafür, dass man die einzelne Geschichte und die Situation sehen muss.",

sagt Thies Gundlach, so etwas wie der leitende Theologe der Evangelischen Kirche in Deutschland.

"Niemand sollte sich – heil, gesund und fröhlich, wie wir heute leben, ein Urteil darüber anmaßen, in welcher Situation sich Jochen Klepper damals gefühlt hat, im Blick auf seine Frau, auf die Verfolgung, auf die Verzweiflung."

Um der Deportation zu entgehen, nahm sich die Familie am 11. Dezember 1942 das Leben.

Mein Gott, ich will von hinnen gehen,
der Erden Tag wird mir zu lang.
Die Tore deiner Stadt zu sehen,
zu hören himmlischen Gesang,
vor Deinem Angesicht zu stehen,
das ist allein, was ich ersehn.


"Wer die Lieder von Jochen Klepper singt, weiß, dass das eine ganz tiefe Frömmigkeit ist, man kann auch manchmal ahnen, in welch einer geistlichen Verzweiflung, in welcher Gottesverborgenheit und Gottesverlassenheitsgefühl dieser Mensch und diese Familie gelebt hat. Auch da gilt: Gott hat Wege gefunden, die Familie aufzunehmen in sein Reich, es geht nicht um Verurteilung, sondern um Empathie für eine Situation, die wir uns fast gar nicht mehr vorstellen können."

Erfahrungen wie der Suizid von Jochen Klepper, aber vor allem ein weit höherer Stellenwert der Seelsorge haben dazu geführt, dass die Kirchen ihre Position grundlegend gewandelt haben:

"In der evangelischen Kirche ist die Verurteilung der Tat eindeutig und klar, aber die Verurteilung des Täters ist im Grunde ausgeschlossen."

Eine Position, die auch die katholische Kirche heute bezieht. Eberhard Schockenhoff ist Professor für katholische Moraltheologie an der Universität Freiburg. Die moderne Suizidforschung hat herausgefunden, dass mehr als 90 Prozent aller Suizide die Folge einer psychischen Erkrankung sind. Eberhard Schockenhoff betont, dass auch seine Kirche diese Ergebnisse aufgenommen habe.

"Man muss eine Suizidhandlung als Auswirkung einer langen seelischen Erkrankung sehen, das heißt nicht, dass man die Handlung als solche billigt, das im Rahmen einer christlichen Ethik in der Tat nicht möglich. Das Leben ist ein Geschenk, das man annimmt und das man zurückgibt, wenn es einem im Tod genommen wird."

Immerhin rückt der aktuelle Katechismus von der jahrhundertelangen Lehre ab, ein Suizid schließe den Verstorbenen vom ewigen Leben aus. In der offiziellen Unterweisung zu den Grundfragen des katholischen Glaubens heißt es nun:

Man darf die Hoffnung auf das ewige Heil der Menschen, die sich das Leben genommen haben, nicht aufgeben. Auf Wegen, die Gott allein kennt, kann er ihnen Gelegenheit zu heilsamer Reue geben. Die Kirche betet für die Menschen, die sich das Leben genommen haben.

Anders, als es rund 1500 Jahre Praxis der Kirchen war, den sogenannten Selbstmörder zu verdammen, gilt heute für die Christen das, was Margot Käßmann bei der Trauerfeier für Robert Enke sagte.

"Wir dürfen darauf vertrauen: Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand."
Orthodoxe Juden in Antwerpen
Manche orthodoxen jüdische Gemeinden verwehren Selbstmördern die traditionellen Trauerriten© AP Archiv