Verdächtige Bewegungen

Wenn Tanzen staatsfeindlich wird

Liegt im Tanz eine politische Dimension?
Liegt im Tanz eine politische Dimension? © dpa/ picture-alliance/ Sergei Fadeichev
Von Elisabeth Nehring · 14.12.2016
Von "unchristlich" bis "staatsfeindlich" - Tanz ist nicht bloß ein ästhetisches Vergnügen. Ausdrucksformen im Tanz haben eine politische Dimension. Seit Jahrhunderten sind Tanz und Politik auf vielfältige, oft auch widersprüchliche Weise miteinander verflochten.
Istanbul am 18. Juni 2013: Inmitten der lebhaften und lauten Proteste, mit denen sich die Istanbuler Bevölkerung gegen die Bebauung des Gezi-Parks wehrt, steht Erdem Gündüz auf dem Taksim-Platz – immer am selben Fleck, unbeweglich, schweigend. Seinen ausgeleierten Rucksack hat er auf die Erde neben sich gelegt, die Hände stecken in den Hosentaschen. Erst nach Stunden bemerken die ersten Protestler und Passanten, dass sich der junge Mann mit dem schlaksigen Köper und den dunklen Locken nicht bewegt, dass er nichts tut, außer in scheinbarer Seelenruhe auf ein riesiges Plakat von Kemal Atatürk zu starren, dem Gründer der modernen Türkei.
Acht Stunden wird Erdem Gündüz so dastehen, bis zwei Uhr morgens – einigermaßen unbehelligt von der Polizei, die verwirrt erscheint von einem solchen Verhalten, das zu Recht als stiller Protest gewertet werden kann. Was sollen sie ihm vorwerfen – dass er dasteht und immer in dieselbe Richtung schaut? Und was sollen sie mit einem wie ihm machen – verhaften, niederringen? Weil er steht und schweigt?
Der junge Choreograf bricht die Aktion erst ab, als die Polizei all jene bedrängt, die es ihm für einige Minuten oder Stunden nachgemacht haben. Das Beispiel dieses stillen, gewaltfreien Protests wird von den Medien blitzschnell in alle Welt verbreitet. Erdem Gündüz wird als "duran adam" – als "stehender Mann" berühmt und seine Performance als Appell für das Fortbestehen der Türkei als laizistischer Staat bei vielen weiteren Protesten und Demonstrationen wiederholt.
Die spontan entstandene Performance zeigt, wie groß das Potential der körperlichen Präsenz ist.
Thomas Thorausch: "Nehmen Sie einen Menschen und seinen Körper und stellen ihn alleine auf die Bühne, dann kann die kleinste Bewegung ein Akt des Widerstandes sein. Machen Sie daraus 20, 30, 40 Personen und lassen sie im Gleichmaß, Gleichtakt bewegen – dann ist es fast schon wieder ein Stück Ideologie."

Marsch als Ausdruck militärischer Kraft

Thomas Thorausch arbeitet im Tanzarchiv Köln und hat die Ausstellung "Das Echo der Utopien" kuratiert, die die vielfältigen Verschränkungen von Tanz, Bewegung und Politik zeigt. Zum Beispiel anhand verschiedener Militärparaden, in deren kollektiven, gleichförmigen, einheitlichen Massenbewegungen das Individuum hundertprozentig aufgeht und der einzelne Körper mit seinen Charakteristiken und Eigenarten untergeht.
Die zumeist simplen Choreografien militärischer Paraden aus zackigen, konformen Schreit- und Grußbewegungen erlauben keine individuellen Abweichungen oder Interpretationen. Sie sind von Grund auf normiert, emotionslos und dienen ausschließlich dem Beweis des Gehorsams und der Disziplinierung. Als Ausdruck politischer und militärischer Kraft markieren Militärparaden das eine Ende des Spektrums dessen, was choreografierte Bewegung sein kann: vollkommene Bestätigung jener Macht, unter deren Hoheit sie erschaffen wurde.
Doch dass der körperliche Ausdruck in Bewegung die öffentliche Ordnung nicht nur manifestieren, sondern auch in Frage stellen kann – auch das hat in Europa eine lange Geschichte.
"Ein Wirbeltanz voller schändlicher unflätiger Geberden und unzüchtiger Bewegungen (ist) ein Unglück (...), dass unzählig viel Morde und Missgeburten daraus entstehen."
So schreibt es der deutsche Schriftsteller Johann Prätorius 1668 in seinen "Blocksberg Verrichtungen". Nicht nur der Wirbeltanz, sondern der Tanz schlechthin galt über die Jahrhunderte als etwas Bedrohliches – vor allem für die Kirche. Im Deutschen Tanzarchiv Köln finden sich dafür viele Beispiele. So zeigt eine Radierung aus dem 17. Jahrhundert das zwanghafte Tanzen: auf leeren Straßen sieht man hüpfende, wankende und wirbelnde Gestalten neben am Boden liegenden Menschen. Archivar Thomas Thorausch:
"Was passiert, wenn der Mensch nicht mehr Herr über das Tanzen ist, das sehen wir hier in der Darstellung des Veitstanzes aus dem Mittelalter. Man weiß ja heute, dass dieses massenhafte Tanzen, unkontrollierte Tanzen Ausdruck von religiöser Verzückung, Hunger oder von Erkrankungen war und damals war die Therapieform, dass man diese Menschen, die nicht mehr aufhören wollten zu tanzen, gefesselt hat und in eine Kapelle geschleppt hat, um sie dort mit Gebeten und Gesängen zu therapieren. Und das waren meistens Kapellen, die dem heiligen Sankt Veit gewidmet waren und deswegen auch der Ausdruck Veitstanz."

Tänze des Volkes galten als "unchristlich"

"Unchristlich" und "unzüchtig" waren aus Sicht der mittelalterlichen Kirche die Tänze des Volkes; gerade das Springen galt als Ausdruck erotischer Freude und heftigen Liebesverlangens. Doch ließen sich Bauern und Spielleute das Tanzen in Kreis-, Ketten- und Reigenformationen nicht austreiben – trotz aller Maßregelungen und Verfolgungen. Im Gegenteil: zu den derben, oft sexualisierten Bewegungen beim Tanzen kamen häufig Gesänge, mit denen auf sozialkritische und spöttische Weise kirchliche und weltliche Obrigkeiten angegriffen wurden. Tanz und Musik ergaben im Mittelalter eine kritische, ordnungsgefährdende Mischung. Wer denkt, dass das alles Schnee von Gestern ist, irrt.
Noch in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts warnten religiöse Gruppierungen in Amerika vor den Verführungen der Dance Halls. Und das Feiertagsgesetz in Nordrhein-Westfalen untersagt bis heute öffentliche Tanzveranstaltungen und sogar tänzerische Darbietungen an den sogenannten stillen christlichen Feiertagen.
Über die Gründe für den bedrohlichen, aber auch unschicklichen Aspekt des Tanzes spekuliert der zeitgenössische Choreograf Martin Stiefermann, der sich lange mit Tanzgeschichte auseinandergesetzt hat.
Martin Stiefermann: "Ich meine, wenn man (....) so durch die Jahrhunderte geht, dazu kommt immer durch das Körperliche das Anzügliche. Auch durch die Ballettgeschichte zieht sich, dass sich die Ballerinen verkauft haben und das berühmte Foyer de la Danse in der Pariser Oper, wo wirklich ein Fleischmarkt passiert ist. Und das klebt dem Tanz irgendwie an."

Klassisches Ballett hatte auch zweifelhaften Ruf

Sogar das klassische Ballett, eine Kunstform, die höchste Selbstdisziplin und Kontrolle, ja sogar körperlichen Drill erfordert, blieb vom zweifelhaften Ruf, der dem Tanz seit Jahrhunderten vorauseilt, nicht verschont.
Das Ballett Dornröschen in drei Akten mit Musik von Peter I. Tschaikowsky und von Nacho Duato inszeniert, feierte seine Pemiere am 13.02.2015.
Das Ballett Dornröschen in drei Akten mit Musik von Peter I. Tschaikowsky und von Nacho Duato inszeniert, feierte seine Pemiere am 13.02.2015.© picture alliance / dpa / Felix Zahn
Doch ist das Unkontrollierte, Bedrohliche, Anzügliche ist nur die eine Seite dessen, wie Tanz wahrgenommen wird. Denn die herrschende politische und religiöse Klasse hat Tanz und Bewegung über die Jahrhunderte nicht nur verteufelt, sondern vielfach auch für ihre eigenen Zwecke benutzt – und das nicht nur mit militärischen Paraden.
Eine wichtige Rolle spielt dabei der Volkstanz, der aus dem bäuerlichen Treiben des Mittelalters entstanden ist und sich über die Jahrhunderte in ganz Europa in unzähligen Varianten ausgeformt hat. Ob Deutschland, Österreich, Ungarn, Griechenland oder die Türkei – jedes Land, ja jede Region kennt eigene Formen von Volkstänzen, die sich von denen der Nachbarn deutlich unterscheiden und die eng mit der regionalen oder auch nationalen Identität verknüpft sind.

Volkstanz als gesellschaftliches Ereignis

Ob das Tanzen in kreisförmigen Gruppen wie in der Türkei, sich lose aneinanderreihenden Ketten wie in Griechenland und auf dem Balkan oder festen Paaren wie in Deutschland, Österreich und Ungarn – der Volkstanz war ursprünglich kein Schautanz, sondern ein gesellschaftliches Ereignis, an dem jeder teilnehmen konnte. Doch wurden seine Elemente seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend theatralisch eingesetzt. Die "Folklore" entsteht im 20. Jahrhundert – und mit ihr auch die politische Inanspruchnahme dieser Tänze. Beispiel: das sozialistische Ungarn.
"Eng umfassen sich Männer und Frauen. Die Hände liegen auf den Schultern des Partners. Das Paar beginnt sich im Kreis zu drehen, wippt im Doppelschritt abwechselnd nach rechts und links. Das enge Geflecht aus Mann und Frau löst sich in einer halben Wendung, die Tänzerin dreht sich unter dem erhobenen Arm des Mannes, er hebt sie zum leichten Sprung und wirft sie dann weg. Beide schwingen abwechselnd in pulsierenden Wellenbewegungen oder hüpfen mit halb gebeugtem Knie auf und ab. Der Csardas ist ein sich ins Wilde steigerndes Vergnügen und einer der bekanntesten Volkstänze Ungarns."
Auch, wenn das nach einem heiteren Zeitvertreib klingt – der Csardas ist viel mehr als das! Denn der Rückgriff auf das eigene kulturelle Erbe wurde, wie in vielen osteuropäischen Ländern, auch in Ungarn staatlich gelenkt.
Die Choreografin Eszter Salamon erlernte bereits als Kind die vielfachen Variationen der ungarischen Volkstänze. Sie beschreibt den "Apparat für Folkloreproduktion" ihres Geburtslandes.
Eszter Salamon: "Im sozialistischen Ungarn diente die 'Folklorisierung der eigenen Kultur' der nationalen Repräsentation. Folklore entwickelte sich in dieser Zeit zu einer sehr präsenten Bühnenform, die zwar das Aussehen des ursprünglichen Volkstanzes behielt, aber alles verkitschte und vergrößerte, z.B. die Bewegungen, Kostüme und natürlich die Choreografie. Alles wurde sehr virtuos gestaltet und extrem professionalisiert. So entstand das nationale ungarische Folkloreensemble."

Rückgriff auf populäre Traditionen

Von der sozialistischen Kulturpolitik bewusst gesteuert sollte in Ungarn die eigene Bevölkerung durch traditionelle Tänze zu einer nationalen Gemeinschaft zurückfinden. Und nicht nur dort! Überall in Europa gab es im Laufe des 20. Jahrhunderts Rückgriffe auf populäre Traditionen, wobei ganz besonders der volkstümliche Tanz als lebendige Verbindung zu einer als intakt gedachten Vergangenheit erschien.
Für die ungarische Minderheit im sozialistischen Rumänien wurden die traditionellen Tänze zum Mittel der Selbstbehauptung, erzählt Eszter Salamon:
Eszter Salamon: "Das Ceausescu-System war sehr rigide und wollte die ungarische Minderheit daran hindern, ihre eigene Kultur auszuüben. Es war den Ungarn zum Beispiel verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen, das ungarische Radioprogramm wurde dezimiert und man konnte auch kein Ungarisch an der Universität studieren. Auf allen möglichen Wegen sollte ihnen ihre kulturelle Identität genommen werden. Aber die alten Bauern tanzten ihre Volkstänze weiter und sangen auch weiter ihre Lieder – ohne etwas an ihnen zu ändern! Das war ihre Form des Widerstands und auf diese Weise bewahrte die ungarische Minderheit in Rumänien ihre eigenständige Kultur."

DDR: Volkstanz im Sinne des Sozialismus

Auch in der DDR gab es eine Besinnung auf das eigene, national definierte Erbe. Aus den Debatten und theoretischen Diskursen in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren wird deutlich, dass der Volkstanz im Sinne des Sozialismus zunehmend – mal mehr, mal weniger subtil – politisiert werden sollte.
"Viele Tänzer haben mit Fleiß studiert, was uns die Volksüberlieferung erhalten hat. Sie haben Tänze erforscht und gepflegt und uns die Augen für die Schönheit dieses Erbes geöffnet. Sicher werden sie mit tieferer Kenntnis der Tradition und größerer Beherrschung der künstlerischen Mittel den Volkstanz immer lebendiger und reicher gestalten. Aber viele Menschen fragen uns heute: kann nicht auch der Volkstanz dem Neuen in unserem Leben überzeugenden Ausdruck geben?"
So steht es in einer programmatischen Erklärung des Zentralvorstands der Gewerkschaft "Unterricht und Erziehung" des Ministeriums für Kultur von 1957. Das Neue – die sozialistische Gemeinschaft des Arbeiter- und Bauernstaates – sollte mit der Wiederbelebung und Pflege des Brauchtums historisch und ideologisch unterfüttert werden. Tanzwissenschaftler Franz Anton Cramer.
Franz Anton Cramer: "Der Begriff 'national' wird sehr emphatisch und mit großer Überzeugung verwendet in der DDR. Die sozialistische Nationalkultur ist ein gängiger Begriff, taucht auch auf in den Fünf-Jahres-Plänen. Das wurde schon gesucht, es musste etwas Nationales geben, sollte aber auch sozialistisch sein und durfte natürlich nicht die bürgerlichen Fehler wiederholen. Das war insgesamt die Herausforderung. Deswegen auch die Vorgabe, das eine ist das klassische Ballett, wie es auch in der Sowjetunion gepflegt wurde – deswegen konnte es nicht schlecht sein – und Volkstanz. Und auch das ist nicht von der DDR erfunden worden, die Sowjetunion hatte es schon den 30er-Jahren etabliert. Ich glaube, es war `36 als Gegenveranstaltung zur Olympiade in Berlin, da gab es in Moskau das große Fest der Völker der Sowjetunion. Aus allen Regionen waren Tanzensembles nach Moskau eingeladen, wo sie ihre regionalen Tänze unter dem sozialistischen Regenschirm aufgeführt haben."

Was ist ein "Tanzfest mit sozialistischem Inhalt"?

Dieses Fest der Völker der Sowjetunion wurde zum Vorbild für die Tanzfeste in der DDR. Das thüringische Rudolstadt mit seiner intakten Altstadt, dem repräsentativen Marktplatz und dem darüber liegenden Schloss bot einen idealen Schauplatz für die größte dieser Veranstaltungen mit regionalen Tanzgruppen, Blasmusik, Fanfarenzügen und Volkschören.
"Unsere Tanzfeste mit sozialistischem Inhalt füllen!"
Ein kurioses Beispiel für einen sozialistischen Inhalt ist das Tanzspiel "Die Einzelkuh", die das Staatliche Dorfensemble 1958 unter Einbeziehung von Volkstanzelementen neu inszeniert hatte.
"In dem sieht man Arbeiter der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, die sich über den guten Erlös ihrer gemeinsamen Arbeit freuen und zu tanzen beginnen. Daneben plagt sich ein solitäres Bauernpaar mit seiner 'Einzelkuh', die von Tag zu Tag widerspenstiger wird. Denn die Kuh hat längst die Vorteile der genossenschaftlichen Arbeit auf dem Land erkannt. Als sie endlich über den Zaun springt, kann auch das Bauernpaar nicht mehr widerstehen, zieht hinterher und wird von den Mitgliedern der Genossenschaft freudig aufgenommen und zum Tanz eingeladen."
Volkstanz im Dienste sozialistischer Erziehung auf dem Lande. Wie alle anderen Künste wurde auch das Ballett der Erziehung untergeordnet. 1953 veröffentlichte die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten ihre "Thesen zum Realismus in der Tanzkunst", worin die ideologischen Forderungen an den Tanz festgelegt waren: Jeglicher ‚Formalismus’, wie es genannt wurde, sollte strikt vermieden werden; Tanz sollte ein sozialistisches Menschenbild vermitteln und ‚Inhalte’ transportieren.
Die abendlich beleuchtete Komische Oper in Berlin in der Dämmerung.
Die abendlich beleuchtete Komische Oper in Berlin in der Dämmerung.© picture-alliance / dpa / Jens Kalaene
Tom Schilling, künstlerischer Leiter an der Komischen Oper in Berlin und sicher der bedeutendste Choreograf der DDR, schuf erzählerische Tanzstücke, in denen sich klassische und moderne Elemente vereinten. Er verlangte von seinen Tänzern:
"Jede Geste soll Handlung sein!"
Während sich in der DDR Ballett und Volkstanz am Beispiel der Sowjetunion zu orientieren hatten, wurde der moderne Ausdruckstanz dagegen des "Abgleitens in unbegreifliche Ausdrucksformen, Unverständlichkeit und Mystizismus" bezichtigt.
Nur wenige Jahre zuvor wurden noch ganz andere Meinungen verfochten – mitunter von denselben Theoretikern. Unter den Nationalsozialisten wurde das klassische Ballett als "undeutsch" abgelehnt; der Ausdruckstanz dagegen zu einer nationalen Aufgabe erklärt – ebenso wie der Volkstanz.

Tanzen als "Angelegenheit der nationalen Kultur"

Der Tanzkritiker Fritz Böhme, der bereits in der Weimarer Republik Tanzkritiken verfasste, Tanzkongresse organisierte und Tanzjournale herausgab, propagierte 1932:
"Das Tanzen ist eine Angelegenheit der nationalen Kultur (....). Der Jugend müssen die Wege geöffnet werden, die zu einer einheimischen, bodenständigen, zielvoll durchgeführten Pflege des Tanzens führen. (...) Nur so wird man der Jugend die Abwehrkräfte gegen den Ansturm des Fremden, so genannten Internationalen geben und die Aufbaukräfte, einen eigenen, volksmäßigen, nationalen Tanz zu schaffen und zu pflegen."
Körperformung wurde zur obersten Maxime der nationalsozialistischen Idee: der neue Mensch war nicht mehr Individuum, sondern Teil des "Volkskörpers".
Eine Fotografie vom Reichsparteitag 1938 in Nürnberg zeigt auf dem Feld vor der Haupttribüne Tausende junger Frauen, die in schlichte Trachten gekleidet sind und sich mit ausgestreckten Armen an den Händen fassen. Ein gemeinschaftlicher Tanz mit Blick auf den Führer.

Josef Goebbels sah sich als Choreograf

Franz Anton Cramer: "Es waren nicht nur Paartänze, sondern auch Gruppentänze, oft allerdings ausgerichtet auf Frontalsituationen, so (...) dass sie zum Anschauen gemacht sind und nicht nur zum Mitmachen und sich in der Gruppe geborgen fühlen."
Tanzwissenschaftler Franz Anton Cramer.
Franz Anton Cramer: "Ich glaube, dass gerade der Tanz so völkisch aufgeladen worden ist, das ist relativ neu und hat mit einer Umkehrung zu tun aus meiner Sicht, dass einerseits die Überlegung war, dass der Körper pe se etwas Authentisches darstellt und wieder zu seinem Recht gebracht werden muss – im Gegensatz zur Entfremdung durch Industrialisierung und Massenbetrieb. Und dass andererseits der Tanz gerade im 20. Jahrhundert eine ganz aktuelle Kunstform war."
Der nationalsozialistische Führer Adolf Hitler (r) und der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels (M), besuchen 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst" im Münchner Haus der Kunst. Während des Dritten Reiches wurden auf der Grundlage der Rassentheorie unzählige moderne Kunstwerke von den Nationalsozialisten als "artfremd", bzw. "entartet" angesehen und beschlagnahmt oder zerstört. Eine Auswahl der Werke wurde 1937 in München ausgestellt.
Der nationalsozialistische Führer Adolf Hitler (r) und der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels (M), besuchen 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst.© picture-alliance / dpa / Ullstein
Reichspropagandaminister Josef Goebbels sah sich selbst als Choreograf. 1933 verkündete er:
"Wir fühlen uns auch als Politiker sozusagen als künstlerische Menschen. Ich bin sogar der Meinung, dass die Politik die höchste Kunst ist, die es gibt, denn der Bildhauer formt nur den Stein, und der Dichter formt nur das Wort, das an sich tot ist. Der Staatsmann aber formt die Masse, (....) haucht der Masse Leben ein, so dass aus der Masse dann das Volk entsteht."
Bemerkenswert: Moderne Choreografen wie Rudolf von Laban, Mary Wigman und Harald Kreutzberg, die bereits in den zwanziger Jahren als Speerspitze der künstlerischen Avantgarde galten, arbeiteten freiwillig und mit großer Energie mit den Nationalsozialisten zusammen. Olympische Spiele 1936.
Auf der Eröffnungsfeier präsentierten sich u.a. Gret Palucca, Harald Kreutzberg und Mary Wigman mit ihren Choreografien. Die auch heute noch bekannteste deutsche Ausdruckstänzerin Mary Wigman schuf das mystizistische Massenstück "Totenklage", in dem 80 Tänzer und Tänzerinnen weihevoll schritten, pathetisch die Arme gen Himmel hoben und wie in einem pseudo-religiösen Ritual um sich selbst kreisten.

Ausdruckstanz und die Ideologie der Nazis

Aus ihrer Faszination für die nationalsozialistische Ästhetik hat Mary Wigman nie ein Hehl gemacht; Fackelaufzüge, Aufmärsche und Paraden erschienen ihr als "eine einzige große Choreografie", in der sich ein "kultisch-feierliches Lebensgefühl" zeige. In ihrem Buch "Die deutsche Tanzkunst" erklärte sie 1935, der Ausdruckstanz sei von "deutschem Wesen" und ihre Choreografien dazu gedacht, eine deutsch-völkische Gemeinschaft zu stiften. Choreograf Martin Stiefermann:
"Was am Ausdruckstanz der Ideologie der Nazis nahe kam, war der Körperkult, das Befreite, das befreite Tanzen. Das passte ins Klischee."
Wigman, Laban, Kreutzberg und Co. gehören einer Generation an, die spätestens seit Beginn der 1920er Jahre andere – wir würden heute sagen: alternative - Lebens- und Arbeitsbedingungen erprobte.
Thorausch: "Die entstehen abseits der Städte, an solchen Orten wie Monte Verita, Ascona, aber natürlich auch so anthroposophischen Gemeinschaften wie z.B. der Lohelandschule, einer der ältesten anthroposophischen Gemeinschaften Deutschlands. Und dann gibt es diese Köpfe, die gehen über die Bewegung hinaus, Ernährung wird zum Thema, Leben, Arbeiten wird zum Thema und auch die Orte, an denen Kunst stattfindet. Und so entwirft Rudolf von Laban um 1920 einen Tanztempel."
Eine Fotografie zeigt einen Entwurf dieses nie realisierten Tanztempels, den Laban für seine Bewegungschöre und Ausdrucksstudien vorgesehen hatte. Ein Halbkreis für die Zuschauer wölbt sich hoch über der runden Tanzfläche; es ist ein Ort, an dem sich Bewegung und sakrales, spirituelles Gefühl verbinden sollten.
Ausdruckstanz von der "American modern dance company" in Moskau.
Ausdruckstanz von der "American modern dance company" in Moskau. © picture alliance / dpa / Sergey Kuznecov
Rudolf von Laban ist sicher eine der schillerndsten Figuren der deutschen Ausdruckstanzbewegung. Als Analytiker bemühte er sich um die Systematisierung des modernen Tanzes, schuf mit der Labanotation eine Methode, körperliche Bewegung im Raum schriftlich festzuhalten und entwickelte bis heute gültige Bewegungstechniken und Lehrmethoden. Nach 1933 übernahm der eigentlich so fortschrittliche Choreograf mit dem scharfen Verstand die Leitung der Deutschen Staatsoper und der Deutschen Tanzbühne und wurde zum künstlerischen und theoretischen Chefideologen des NS-Regimes in Sachen Tanz. Thomas Thorausch versucht eine Erklärung zu finden.
Thorausch: "Der Tanz ist eine Kunst, die es – bis heute - schwer hat, die sehr oft nicht in den Kanon der großen Künste Literatur, Musik, bildende Kunst aufgenommen ist. Es ist so ein bisschen eine Randposition. Jetzt kommt plötzlich ein politisches System und umarmt Sie, in einer Weise, wie Sie noch nie umarmt worden sind und Sie werden auf einen Sockel gehoben und werden zu einem staatstragenden Künstler. Und wir haben immer das Problem, dass wir Geschichte vom Endpunkt aus sehen, aber stellen Sie sich vor, Sie sind mitten drin."

Choreograf wird Feind der Nationalsozialisten

Doch just auf dem Höhepunkt seines Schaffens fiel Rudolf von Laban bei den Nationalsozialisten in Ungnade. Zur Generalprobe seines olympischen Weihefestspiels, das der Choreograf ein Jahr lang mit 1.200 Tänzern vorbereitet hatte, kam auch Reichspropagandaminister Goebbels. Der notierte in seinem Tagebuch:
"Tanzspiel Probe: frei nach Nietzsche. Eine schlechte, gemachte und erkünstelte Sache. (...) Das ist alles so intellektuell. Ich mag das nicht. Geht in unserem Gewande daher und hat doch gar nichts mit uns zu tun."
Nach diesem Urteil war Labans Karriere unter den Nazis beendet; der Choreograf wurde zum Staatsfeind erklärt und musste schnellstmöglich nach England emigrieren – in jenes Land, in das sich sein Schüler Kurt Jooss schon längst abgesetzt hatte.
Jooss war weder jüdisch noch wurde er aus anderen Gründen verfolgt; der Ballettdirektor des Opernhauses in Essen hatte sich schlichtweg geweigert, ohne seine jüdischen Mitarbeiter weiterzuarbeiten.
Kurt Jooss ist nicht nur als Beispiel für künstlerische Zivilcourage in die Tanzgeschichte eingegangen, er war auch Choreograf des Antikriegsballetts "Der Grüne Tisch". In dem ließ er bereits 1931 tanzende Generäle mit fratzenhaften Gesichtern zusammenkommen und über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden. Von dem "Grünen Tisch" existieren nur noch Fotografien und in den nachfolgenden Jahrzehnten sind zahlreiche Rekonstruktionen entstanden. Doch bis heute gilt es als eines jener hellsichtigen Tanzstücke, in denen sich die politischen Zeichen der aufkommenden neuen Zeit verdichtet haben.
Choreografien, die sich aus gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, Situationen oder Stimmungen ableiten, gibt es bis heute. Verfolgte ein Choreografen-Veteran wie Johann Kresnik in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren mit Produktionen wie "Ulrike Meinhof" oder "Wendewut" noch einen mitunter brachialen politischen Aktionismus, sind in gesellschaftlich und politisch unübersichtlicheren Zeiten auch die künstlerischen Mittel subtiler.

Tanz ist selten nur ästhetisches Vergnügen

Der zeitgenössische Choreograf Martin Stiefermann arbeitet derzeit an einem zweijährigen Rechercheprojekt zur "Zukunft des Krieges", in dem nicht nur Tanzperformances gezeigt werden, sondern auch Diskussionen und Ausstellungen das Thema umkreisen.
Stiefermann: "Mir geht es eher darum, zum Nachdenken anzuregen. Ich finde es spannend, wenn man einen Impuls setzt oder die einen Gedanken weiterspinnen können."
Wie politisch Ausdrucksformen von Tanz sind, wird oft unterschätzt. Erstaunlich selten, sind Tanz und Choreografie l'art pour l'art – einfach nur ästhetisches Vergnügen.
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