Verbrechen der Kolonialmächte

Verjährt Verantwortung für Völkermord?

53:48 Minuten
Stammesoberhaupt Chief Vekuii Rukoro (M, rote Uniform) und andere örtliche Stammesältere stehen auf dem Hügel, von dem aus der damalige deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha den Schießbefehl gab, der den Beginn des Völkermordes an den Herero markierte.
Gedenken an den Völkermord in Namibia: Stammesoberhaupt Chief Rukoro (M, rote Uniform) auf dem Hügel, von dem aus der Schießbefehl für den Genozid gegeben wurde. © picture alliance / dpa / Jürgen Bätz
Moderation: Annette Riedel · 18.06.2021
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Die Bundesregierung bekennt sich zu deutschen Verbrechen in der Kolonialzeit. Eine Versöhnungsvereinbarung mit Namibia liegt auf dem Tisch. Sie spricht von Völkermord an Herero und Nama. Aber es gibt heftige Kritik. Scheitert die Versöhnung?
2015 gestand der Sprecher des Auswärtigen Amts erstmals vorsichtig den Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika durch das Deutsche Reich ein. In einem "Vernichtungs- und Rassenkrieg" kamen ungefähr 80.000 Menschen ums Leben – auch Frauen und Kinder: Erschossen, vertrieben, verdurstet und verhungert, in Konzentrationslagern durch medizinische Experimente ermordet. Skelette von Hereros wurden nach Berlin geschickt – zur Rassenforschung.

Nachfahren der Opfer sind empört

Seit 2015 wurde ein Versöhnungsabkommen ausgehandelt – Ende Mai wurden die Verhandlungen in Berlin beendet. Deutschland erkennt als erste westliche Regierung an, dass in der Kolonialzeit ein Genozid verübt wurde. Berlin will auch zahlen – keine Reparationen, aber 1,1 Milliarden Euro Entwicklungshilfe in den nächsten 30 Jahren.
Das hat bei Nachfahren der Opfer in Namibia große Empörung verursacht – im Parlament in Windhoek gab es heftige Kritik fast der ganzen Opposition, aber auch in Teilen der SWAPO-Regierung. Offensichtlich waren zu wenig oder die falschen Vertreter der Volksgruppen mit am Verhandlungstisch.

Unrecht ist nicht in Geld aufzuwiegen

Der deutsch-namibische Politologe Henning Melber wertet das Abkommen als Beleidigung, die vorgesehene Zahlung sei in ihrer Höhe eine "Peinlichkeit". Historisches Unrecht lasse sich nie in Geld aufwiegen, kein einziges Menschenleben. Aber das Zeichen für Reue, Sühne und Entschuldigung müsse materielle Konsequenzen haben.
Er könne keine Summe festlegen, sagt Melber. Aber die nun im Abkommen zugesagten 1,1 Milliarden Euro in 30 Jahren seien genau das, was Deutschland in den letzten 30 Jahren an Entwicklungshilfe nach Namibia überwiesen habe. In Relation zu milliardenschweren Infrastrukturprojekten wie dem Berliner Flughafen sei das zu wenig.
Bundesaußenminister Maas habe sie eine finanzielle "Geste" genannt. In Verbindung mit dem Eingeständnis des Völkermords sei aber genau das eine Beleidigung, so der Wissenschaftler vom Nordic Africa Institute in Uppsala.
Der Namibia-Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Ruprecht Polenz, sagt, die höchste geforderte Summe liege bei 147 Milliarden Euro, eine mittlere bei 73 Milliarden. Der im Juni 2021 infolge einer Covid-19-Erkrankung verstorbene Herero-Führer Rukoro hatte 30 Milliarden Euro gefordert.
Diese Reparationen seien aber in insgesamt drei Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abgewiesen worden, zuletzt klagte Rukoro in New York.

Steht das Abkommen auf der Kippe?

Wann die Vereinbarung unterzeichnet werden kann und ob Bundespräsident Steinmeier in diesem Jahr noch nach Namibia reisen wird, um sich offiziell für die Kriegsverbrechen zu entschuldigen, ist fraglich. Wurde damit eine große Chance vertan?
Die Bochumer Genozidforscherin Kristin Platt sagt, das Abkommen zeige, dass ein wichtiger Perspektivwechsel nicht vollzogen wurde.
Das Abkommen gestehe ein, dass Deutschland eine historische Verantwortung habe und dazu eine Verpflichtung für die sogenannte finanzielle "Geste" sehe. "Wir haben aber eine gegenwärtige Verantwortung" gegenüber den Herero und Nama, die konkrete Konsequenzen des Völkermords noch heute erfahren, sagt sie.
"Das sind reale Aspekte und die müssen auch so formuliert werden", sagt die Kulturwissenschaftlerin und Sozialpsychologin. Insofern handele es sich nicht um ein symbolisches Abkommen.

Der Kolonialismus ist in Namibia Gegenwart

Henning Melber betont: "Wir reden über koloniale Vergangenheit. In Namibia ist dies nicht Geschichte. In Namibia ist der Kolonialismus Gegenwart. Er zeigt sich täglich, wenn die Menschen an eingezäunten Farmen in weißem Besitz vorbeikommen."
"Die Gegenwartsperspektive hat uns die ganze Zeit geleitet", sagt Verhandlungsführer Polenz. Noch vorhandene Wunden müssten geheilt werden, aber Versöhnungsprozesse könnten nicht zwischen Regierungen ablaufen, die Zivilgesellschaften müssten einbezogen werden, so der CDU-Politiker.

Der Kolonialismus zeigt sich heute im Rassismus

"Wenn die Zivilgesellschaft negiert wird, dann kommt sie zurück und holt sich ihr Rederecht", sagt der afrodeutsche Lyriker Michael Küppers-Adebisi. Es gehe um eine politisch-moralische Frage und um die Kontinuität des Genozids.
Dies einzugestehen bedeute auch, dass es eine Kontinuität des strukturellen Rassismus gebe, sagt der Gründer des Daten- und Medienkanals AFROTAK. Und es gebe die afrikanische Diaspora – es müsse endlich die Gesamtheit des Komplexes betrachtet werden, so der Multimedia-Künstler aus Berlin.

Historisches Abkommen setzt andere Kolonialmächte unter Druck

Mit dem Anerkennen des Genozids setzt Deutschland auch andere ehemalige Kolonialmächte unter Druck: Frankreich, Großbritannien, Belgien, Spanien und Portugal. Das Abkommen, sagt der Politologe Melber, sei historisch. Der Schritt der Anerkennung des Völkermords verdiene Respekt, obwohl es an der Umsetzung hapere.
Weltweit seien die Verhandlungen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Aber man sei darauf bedacht gewesen, dass kein Präzedenzfall geschaffen werde, weder für Deutschland noch für andere frühere Kolonialmächte.
Aber das Abkommen sollte andere Länder zu Bekenntnissen bewegen, "um nicht zu sagen: zu zwingen", so Melber.

Wie lang reicht Verantwortung in die Gegenwart?

Was bedeutet der Streit über die wichtigen und hochsymbolischen Verhandlungen für die Übernahme der Verantwortung? Wie weit reicht die Verantwortung für Völkermord? Kann die Schuld verjähren?
Diesen Fragen müsse sich jede Generation neu stellen, sagt Genozidforscherin Platt.
Ruprecht Polenz sitzt im Anzug vor einer Wand gestikuliert
Verteidigt das Versöhnungsabkommen gegen Kritik: Der CDU-Politiker Ruprecht Polenz.© picture-alliance / Kai-Uwe Heinrich TSP
Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Debatte ihres Fachbereiches, ob die deutsche Fixierung auf die Einzigartigkeit des Holocaust andere Völkermorde relativiere, meint Ruprecht Polenz: "Jeder Völkermord ist für sich ein schreckliches Verbrechen. Man kann vergleichen, was dazu geführt hat. Aber das Ergebnis darf nicht sein, dass man ein Völkermord-Ranking macht."

Relativiert der Genozid in Afrika den Holocaust?

Der Völkermord an den Herero und Nama stehe an einer bestimmten Stelle der deutschen Kolonialpolitik, nämlich "an der Schwelle zwischen einem kolonialen und nationalen Gewaltakt, weil das damalige Deutsch-Südwestafrika als Teil des deutschen Territoriums angesehen wurde, sagt Kristin Platt.
Die NSDAP sei nicht nur durch totalitäre Mechanismen an die Macht gekommen, sondern auch, weil das Gedankengut des Völkermords in Teilen der Gesellschaft anschlussfähig war. Kann man aber mit dieser Begründung den Holocaust relativieren? "Nein!", sagt die Bochumer Genozidforscherin klar.

Deutschland leidet weiter an "kolonialer Amnesie"

Und wie steht es um den Zusammenhang zwischen Rassismus und Kolonialismus? Die "koloniale Amnesie" sei in der deutschen Gesellschaft immer noch präsent, sagt der deutsch-namibische Politologe Melber. "Wir sind weiter geprägt vom kolonialen Blick".
In Deutschland sei der Kolonialismus nicht Vergangenheit, meint Michael Küppers-Adebisi. Es gebe immer noch 9000 menschliche Schädel aus Afrika in deutschen Museen und Privatsammlungen. Es sei noch nicht im Bewusstsein angekommen, dass antischwarzer Rassismus damit fortgeschrieben werde.
Die dekoloniale Szene hungere danach, dass dies auch diskutiert werde, so der afrodeutsche Lyriker.
"Wir kennen keine Sklaven, nur Versklavte. Um den Menschen ihre Menschlichkeit zu belassen, müssen wir den Diskurs miteinander führen und davon wegkommen, dass nur Schwarze die Vergangenheit aufarbeiten müssen. Weiße müssen verstehen, dass auch sie geschädigt wurden durch die Morde in der Vergangenheit."


Teilnehmende:

Michael Küppers-Adebisi
Afrodeutscher Lyriker und Gründer des Daten- und Medienkanals AFROTAK

Henning Melber
Deutsch-namibischer Politologe, The Nordic Afrika Institute, Uppsala

Kristin Platt
Genozidforscherin Ruhruniversität Bochum

Ruprecht Polenz, CDU
Namibia-Sonderbeauftragter der Bundesregierung

(bk)
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