Verbrechen an den Herero und Nama

Die juristische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus

Herero- und Nama-Gefangene um 1904 im heutigen Namibia.
Herero- und Nama-Gefangene um 1904 im heutigen Namibia. © afp / National Archives of Namibia
Von Beate Ziegs · 27.08.2018
Seit Jahren verhandeln Deutschland und Namibia über die Aufarbeitung des Völkermords, den die deutsche Schutztruppe 1904 an den Herero und Nama begangen hat. Trotz der historischen Dimension dringt so gut wie nichts an die Öffentlichkeit.
"Halt! Gewehr ab! Meldung von der Spitze: 600 Meter vor uns zeigen sich feindliche Herero-Banden... Das Gewehr über!... Halt! Langsames Schützenfeuer..."
Ausschnitt eines auf Wachsplatte gepressten Hörbilds aus dem Jahr 1904. Berichtet wird vom Kampf, den die kaiserliche Schutztruppe im damaligen Deutsch-Südwestafrika gegen die Herero führt, ein Hirtenvolk, das seit Jahrhunderten in der Region lebt. Der Kampf artet in einen Genozid an den Herero aus. Betroffen ist auch das Volk der Nama, alteingesessene Nomaden, die ebenfalls Widerstand gegen die Kolonialmacht leisten.

Protest der Nachfahren in Berlin

114 Jahre später. Nachfahren der ermordeten Herero und Nama demonstrieren vor dem Berliner Schloss, in dem das Humboldt-Forum errichtet wird. In dem "Jahrhundertbau" sollen "außereuropäische Sammlungen" gezeigt werden. Das Problem: Ein Großteil der Exponate wurde auf dem damals üblichen Weg "gesammelt", nämlich unter Anwendung brutalster Gewalt geraubt.
"We are here as Namas and Hereros! We are here as Namas and Hereros! – Genocide! Genocide! – The Germans they killed us! The Germans they killed us!"
Vor einem New Yorker Gericht haben sie Klage gegen Deutschland erhoben. Sie wollen entschädigt werden. Und sie wollen an den Verhandlungen teilnehmen, die zwischen der namibischen und der deutschen Regierung zur Aufarbeitung des Völkermords geführt werden.
Esther Muinjangue: "In der Herero-Sprache sagen wir: ´Kan ton dema.` Das bedeutet: ´Sie haben es nicht geschafft, hier sind wir. Und wir werden weiterleben.`"
Esther Muinjangue, Dozentin für Sozialarbeit an der Universität Windhoek und Vorsitzende der Ovaherero/Ovambanderu Genocide Foundation Namibia.
Muinjangue: "Deshalb kann ich Ihnen versichern, dass wir unseren Kampf fortsetzen bis die Gerechtigkeit obsiegt."
Von "Gerechtigkeit" kann tatsächlich bis heute nicht die Rede sein.

Als Deutschland beginnt, an Kolonisation zu denken

Zwar waren Berlin und Brandenburg bereits im 17. Jahrhundert in den florierenden Sklavenhandel eingestiegen, aber als Deutschland beginnt, an Kolonisation zu denken, haben sich Engländer, Spanier, Portugiesen, Franzosen und Niederländer bereits riesige Gebiete in Afrika, Asien, Australien und Amerika angeeignet. Auf der "Afrika-Konferenz", die im November 1884 in Berlin beginnt, geht es dem Kaiserreich deshalb darum, bei der als "Wettlauf um Afrika" genannten Annexion großer Teile des Kontinents doch noch mithalten zu können.

"Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne." Bernhard von Bülow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt des Deutschen Kaiserreichs.

Am Ende der "Afrika-Konferenz" im Februar 1885 erhält das Deutsche Kaiserreich Togo und Kamerun sowie weite Teile Südwest- und Ost-afrikas. Die amtliche Bezeichnung für die deutschen Kolonien lautet "Schutzgebiete". Ein Euphemismus, denn die Organisationsform dieser Gebiete unterscheidet sich in nichts von der anderer europäischer Mächte. So bestimmt ein Erlass des "Deutschen Kolonialbundes":

"1. Jeder Farbige hat einen Weißen als höherstehend zu betrachten. 2. Vor Gericht kann die Beweiskraft eines Weißen nur durch sieben Farbige aufgewogen werden."

Reichskanzler Otto von Bismarck: "Ziel ist, den Eingeborenen Afrikas den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen."
Erreicht wird dieser "Anschluss an die Zivilisation" durch Landraub, Brandschatzungen, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit, Menschenversuche an erkrankten Afrikanern, willkürliche Steuern und Zölle. Carl Peters, der sich Deutsch-Ostafrika untertan macht, bringt es unverblümt auf den Punkt:

"Der Kolonialerwerb ist die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer, schwächerer Völker Unkosten."

Die Folgen sind Verarmung, Hunger, Existenznot. Dagegen regt sich Widerstand. Berühmt sind der Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika zwischen 1905 und 1907 sowie die Rebellion der Herero 1904.
Das Deutsche Kaiserreich entsendet 15.000 Soldaten zur Verstärkung der Schutztruppe. Angeführt werden sie von Generalleutnant Lothar von Trotha, der schon in China und Deutsch-Ostafrika Aufstände niedergeschlagen hat. Seine Devise:

"Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes. (Er) ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen."

Jürgen Zimmerer: "Die Herero warten am Waterberg im August 1904 auf ein Friedensangebot der Deutschen und merken dann, dass diese Vernichtungsstrategie die Richtlinie vorgibt und entfliehen in letzter Minute aus einem Kessel Richtung dem heutigen Botsuana in die Omaheke-Halbwüste."
Jürgen Zimmerer, Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg und Leiter der Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe":
"Und als die fliehenden Herero – also Frauen und Kinder, Greise und eben auch Krieger, ganze Viehherden – in dieses Trockengebiet hineinwandern, lässt Trotha die wenigen Wasserstellen, die es am Wüstensaum gibt, durch deutsche Truppen besetzen und schneidet sie von den Wasserstellen ab. Und an diesem Saum wird dann am 2. Oktober 1904 auch der Vernichtungsbefehl erlassen."

"Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse sie erschießen."

Da sie sich dem Widerstand anschließen, ergeht es den Nama nicht anders. In dem von von Trotha proklamierten Vernichtungsfeldzug werden schätzungsweise die Hälfte aller Nama und drei Viertel der Herero umgebracht, insgesamt 80- bis 100.000 Menschen. Es ist der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Er endet im März 1908 mit Unterwerfungsverträgen, die unter anderem die Auflösung der traditionellen Stammesstrukturen beinhalten sowie die Konfiszierung sämtlicher Viehbestände und des kompletten Farmlandes.
Zimmerer: "Dieses enteignete Land ist in den Besitz weißer Siedler übergegangen, deutscher, dann auch südafrikanischer, und ist im Wesentlichen immer noch in der Hand dieser Gruppen."
Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag von 1919 seine Kolonien an die Siegermächte abtreten.


Esther Muinjangue: "Man sagt uns, wir seien keine direkten Opfer, weil der Völkermord vor mehr als 100 Jahren stattfand. Das stimmt nicht. Wir fühlen noch immer den Schmerz. Noch immer leben Herero und Nama in Südafrika und Botsuana – nicht freiwillig, sondern weil sie damals flohen. Sie haben ihre Kultur verloren, ihre Identität, ihre Sprache."
Esther Muinjangue, die Vorsitzende der Ovaherero/Ovambanderu Genocide Foundation Namibia.
Muinjangue: "Das einzige, was wir wollen, ist, das Menschenrecht auszuüben, für sich selbst zu sprechen. Wir verweigern der namibischen Regierung nicht den Platz am Verhandlungstisch. Sie kann ihren Fall vorbringen, obwohl ich nicht weiß, welcher das sein soll. 1904 gab es keine nationale Regierung. Es gab Volksgruppen, die von traditionellen Führern geleitet wurden. Und die wurden von den Deutschen anerkannt, denn schließlich haben sie mit ihnen Verträge geschlossen. Und wir haben solche Führer noch immer."
Die Kläger berufen sich auf die "Erklärung der Rechte für indigene Völker", die 2007 von der UNO verabschiedet wurde. Sie sieht eine Beteiligung indigener Völker an sie betreffenden Entscheidungen durch selbstbestimmte Vertreter vor und stellt sie damit auf die gleiche Ebene mit allen anderen Völkern.
Kenneth McCallion: "Deutschland hat diese Erklärung unterzeichnet. Und wir gehen davon aus, dass Deutschland schon bald von der UNO aufgefordert wird, sich zu erklären, warum es diesen indigenen Völkern das Recht verweigert, an Diskussionen über ihre Zukunft teilzunehmen."
Kenneth McCallion ist einer der Anwälte der klagenden Herero und Nama. Und er ist eine Legende unter New Yorker Juristen: Er vertrat zum Beispiel erfolgreich ehemalige Zwangsarbeiter bei Entschädigungsklagen gegen Deutschland und deutsche Großunternehmen sowie Opfer der Explosion der Chemiefabrik im indischen Bhopal. Juristische Grundlage solcher Klagen ist das 1789 in den USA erlassene Gesetz "Alien Claims Tort Act", das Nicht-US-Bürgern weltweit erlaubt, Schäden infolge von Verstößen gegen internationales Recht in den USA einzuklagen.
McCallion: "Deutschland verletzt nicht nur heute geltendes internationales Recht, sondern hat das auch damals getan. Den Begriff ´Genozid` gab es noch nicht, man nannte das ´Vernichtungskrieg`. Der rücksichtslose Massenmord an Zivilisten war sowohl gegen das deutsche als auch gegen das internationale Recht. Außerdem haben sie Verträge gebrochen, die sie mit souveränen indigenen Völkern abgeschlossen haben. Wir machen also geltend, dass sich die Verletzung internationalen Rechts zum großen Teil nicht nur auf den Massenmord bezieht, sondern auch auf die Wegnahme von Eigentum, das einen beträchtlichen Wert hatte. Es geht also auch um finanziellen Schaden."
Und damit geht es bei der Sammelklage auch um Entschädung. Allerdings nicht um individuelle Wiedergutmachung, denn die Nama und Herero kannten kein Privateigentum im europäischen Sinne. Stattdessen soll die Gemeinschaft der Herero und Nama als ganzes entschädigt werden. Deshalb der Begriff "Sammelklage". Über die Summe müsste mit der Bundesregierung verhandelt werden. Die aber bestreitet die Zulässigkeit der Klage – unter anderem mit der Begründung, man verhandle nur mit souveränen Staaten, nicht aber mit Gruppen, obwohl die Bundesregierung genau das im Fall des Völkermords an den Juden getan hat und sie sich noch im Februar 2018 mit der Jewish Claim Conference über Zahlungen an algerische Holocaustüberlebende geeinigt hat.
Die 2. Marine-Feldkompanie 1904 in Deutsch-Südwestafrika 
Vor dem Abmarsch gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika wird im Jahr 1904 die 2. Marine-Feldkompanie eingesegnet. © picture alliance/dpa/Foto: Friedrich Rohrmann

Bundesregierung sieht Völkerrecht auf ihrer Seite

Um die Klage zu verwerfen beruft sich die Bundesregierung außerdem auf den Grundsatz der Staatenimmunität, der es verbietet, ein Land vor den Gerichten eines anderen zu belangen. Einen Anspruch auf Schadensersatz könne es daher nur geben, wenn sich damals geraubtes Eigentum noch heute in den USA befinde. Aber genau das ist nach Meinung der Kläger der Fall: Sie machen geltend, dass Einnahmen der früheren deutschen Reichsregierung aus dem Landraub an den Herero und Nama direkt in den Erwerb von Immobilien in New York geflossen sind. Es sind Gebäude, in denen heute zum Beispiel die deutsche UN-Vertretung und das deutsche Generalkonsulat residieren.
Ungeachtet dieser Gegenargumente wähnen sich die Anwälte der Bundesregierung in der Gewissheit, das Völkerrecht auf ihrer Seite zu haben. Demgemäß stellen sie in ihrem Antrag auf Einstellung des Verfahrens fest:

"Juristische Maßstäbe unterliegen dem Wandel der Zeit; aber das Recht des 21. Jahrhunderts kann nicht mehr als 110 Jahre in die Geschichte zurückgeführt werden."


Pech für die Herero und Nama, dass die Verbrechen genau vier Jahre zu früh an ihnen verübt wurden! In seiner Beurteilung der völkerrechtlichen Implikationen und haftungsrechtlichen Konsequenzen des Vernichtungskriegs kam der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages bereits 2016 zu folgendem Schluss:
Hereros 1907 in dem Album "Deutsch-Südwest-Afrika, Kriegs- und Friedensbilder"
Hereros 1907 in dem Album "Deutsch-Südwest-Afrika, Kriegs- und Friedensbilder", Original-Aufnahmen von F. Lange, Windhuk (Verlag Franz Rohloff)© picture alliance/dpa/Foto: akg-images

"Im Hinblick auf das Völkergewohnheitsrecht lässt sich feststellen, dass Individuen (…) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen rudimentären Schutz genossen, der sich aus den Geboten der Menschlichkeit und Zivilisation herleiten ließ. Die Rechtsüberzeugung der damaligen Völkerrechtsgemeinschaft schloss allerdings die in ihren Augen ´unzivilisierten`, indigenen Völker auch von diesen Mindeststandards aus."

Wolfgang Kaleck: "Das ist im Grunde genommen die reaktionärste juristische Position, die man vertreten hat."
Wolfgang Kaleck, Menschenrechtsanwalt und Geschäftsführer des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte, das sich auch mit der juristischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen befasst.
"Erstens mal beruft man sich auf genau die Juristen, die damals für die Kolonialmächte so genanntes ´Recht` definiert haben. Also man blendet zeitgenössische Meinungen der damaligen Zeit ebenso aus wie man kritische Stimmen gegenüber dieser Position heute ausblendet. Und das ist deshalb skandalös, weil die handeln ja in unserem Namen, im öffentlichen Interesse! Und das ist schon ein Hammer! Wenn man sich nämlich in der deutschen Geschichte umschaut, dann gibt es ja durchaus Beispiele, wie man auch mit diesem Thema hätte umgehen können. Und zwar gibt es die so genannte ´Radbruchsche Formel` des vormaligen Reichsjustizministers aus der Weimarer Republik, Gustav Radbruch. Und da kommt unter anderem dieser Satz vor:"

"Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive (…) Recht."

– also das zur jeweiligen Zeit geltende Recht –

"– dass das positive (…) Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn –"

Und jetzt kommt die entscheidende Einschränkung –

"– es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ´unrichtiges Recht` der Gerechtigkeit zu weichen hat."

Das heißt: Geltendes Recht kann dann abgelehnt werden, wenn es dazu dient, Unrecht zu legitimieren. So ist die Aufhebung von Unrechtsurteilen aus der Zeit des Nationalsozialismus Teil der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Und auch die Schießbefehle an der Berliner Mauer wurden als ´unrichtig` erklärt, obwohl sie mit den Grenzgesetzen der damaligen DDR übereinstimmten.
Kaleck: "Wir wollen nur rechtlich schauen, welche Doktrine kann man anwenden, wenn es klar ist, dass die Situation ein ´unerträgliches Maß` an Ungerechtigkeit erreicht hat. Dann kann man sich doch nicht hinstellen und sagen: ´Das war damals Recht.`"

Klage in New York ist noch nicht entschieden

Noch ist nicht entschieden, ob die Klage in New York angenommen wird oder ob das Gericht der Argumentation der Bundesregierung folgt. Für Esther Muinjangue ist das kein Grund, pessimistisch zu sein. Im Gegenteil.
Muinjangue: "Die Tatsache, dass der Fall überhaupt vor Gericht verhandelt wird, ist schon ein Sieg für uns. Aber die deutsche Regierung vor Gericht zu bringen, ist nur ein Plan von vielen. Egal wie das Gericht entscheidet: Es bedeutet nicht das Ende unseres Weges. Wir werden die deutsche Regierung bis ans Ende der Welt verfolgen."
Esther Utjiua Muinjangue (m) 2015 auf dem Garnisonsfriedhof in Berlin
Esther Utjiua Muinjangue (m) von der Ovaherero/Ovambanderu Genozide Foundation (OGF) am 07.07.2015 auf dem Garnisonsfriedhof in Berlin am Gedenkstein für die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia.© picture alliance / Stephanie Pilick
Die Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland.
Ruprecht Polenz: "Wenn wir über New York sprechen, sehe ich das insofern mit einem gewissen Bedauern, weil dieser Versuch, in New York zu klagen, unseren Verhandlungsprozess durchaus verzögert."
Ruprecht Polenz, CDU-Außenpolitiker und Unterhändler der Bundesregierung.
"Es ist klar, dass auch die namibische Regierung jetzt erst einmal schaut, wie geht das weiter. Wird es möglicher Weise eine Sache, über die dann Gerichte entscheiden? Dann gibt es nämlich nicht mehr so furchtbar viel zu verhandeln."
Zed Ngavirue, der Unterhändler der namibischen Regierung, wollte zu der Klage seiner Landsleute keine Stellung nehmen. Auch wenn sich die Verhandlungen durch die eingereichte Klage verzögern sollten, so hat man sich nach knapp drei Jahren immerhin darauf geeinigt, das Kind beim Namen zu nennen.
Polenz: "In dem gemeinsamen Text werden die Ereignisse als Völkermord benannt. Es ist aber durch die Verwendung dieses Begriffs nicht zu einer Rechtsfrage geworden. Wir verhandeln über eine politisch-moralische Frage aus deutscher Sicht mit Namibia, nicht über eine Rechtsfrage, die etwa ein Gericht entscheiden könnte. Deshalb reden wir, weil es ja nicht um einen Schlussstrich geht, über eine deutsch-namibische Zukunftsstiftung. Da soll es vor allem darum gehen, eine gemeinsame Erinnerungskultur zu pflegen. Das kann Forschungsaufträge beinhalten, das kann das Gedenken im öffentlichen Raum betreffen oder vieles andere mehr. Außerdem soll es darum gehen, den damals besonders betroffenen communities auch materiell und substantiell zu helfen, sodass die noch offenen Wunden geheilt werden."
Ngavirue: "Die Verhandlungen werden dann zäh, wenn es um Reparationen geht.Oft verweigern sie sogar den Begriff und sagen, ´die Wunden heilen`."
Zed Ngavirue in einem Interview mit dem namibischen Fernsehen.
Polenz: "Ich kann keine Geldsummen nennen. Aber über die Differenz in dem Bereich sprechen wir."
Ngavirue: "Wenn sie sagen, unsere Forderung sei zu hoch, frage ich mich, ob sie sich der Ernsthaftigkeit unserer Lage bewusst sind und die Armut sehen, in der wir unverschuldet leben?"
Polenz: "Im Grunde sind seit der Unabhängigkeit Namibias im Jahre 1989/90 die Beziehungen immer enger geworden. Deutschland hat sich entwicklungspolitisch stark in Namibia engagiert. Namibia ist in Subsahara-Afrika das Land mit pro Kopf der höchsten Entwicklungshilfe, die es von Deutschland bekommt."

Deutsche Zahlungen sind nicht bei Bevölkerung angekommen

Seit 1990 hat Deutschland dem Land etwa eine Milliarde Euro gezahlt. Bei den Herero und Nama ist nicht viel davon angekommen. Den größten Teil hat die namibische Regierung, die von Angehörigen der Ovambo dominiert wird, den Siedlungen ihrer eigenen Volksgruppe zukommen lassen – sofern überhaupt nachvollzogen werden kann, wohin das Geld geflossen ist, denn Namibia steht seit langem im Ruf, Korruption und Misswirtschaft institutionalisiert zu haben. Mit der Folge, dass das Land in einer dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise steckt. Die von Ngavirue erwähnte Armut ist also auch hausgemacht. Und da überdies nicht sicher ist, wem die von Namibia geforderte Entschädigungssumme tatsächlich zugute kommen würde, misstrauen viele Herero und Nama dem von der namibischen Regierung ernannten Unterhändler, auch wenn Ngavirue selbst Herero ist.
Polenz: "Es geht nicht darum, dass man hinter irgend wessen Rücken verhandeln wolle, sondern einfach, dass die namibische Regierung sich so entschieden hat, wie sie sich entschieden hat. Und dass wir damit jetzt auch umzugehen haben."
Unterhändler Ruprecht Polenz: "Aber es wird bei uns das Argument geben – nicht zuletzt, weil der Bundestag, lassen Sie mich das mal so formulieren, inzwischen etwas anders zusammengesetzt ist: ´Ja, wie lange wollen wir das denn noch machen, uns für irgendwas entschuldigen?` Kein anderer mache das. Und ich finde, da gibt es sehr, sehr gute Argumente, dem entgegenzutreten."
Auch ohne Abgeordnete der AfD, auf die Ruprecht Polenz hier anspielt, hat der Deutsche Bundestag schon einmal einen Antrag abgelehnt, den Völkermord anzuerkennen. Eingebracht wurde er im März 2012 von Frank-Walter Steinmeier, damals Fraktionsvorsitzender der SPD, im Namen seiner Partei und der Grünen. Darin heißt es ganz lapidar:

"Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord."

Im Juli 2015, Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen Außenminister, erklärt das Auswärtige Amt, die Bundesregierung habe den Satz als "Leitlinie" übernommen. Aber der Bundestag sperrt sich weiterhin, obwohl er im Juni 2016 mit breiter Mehrheit einer Resolution von Union, SPD und Grünen zustimmt, das Massaker an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen.
Jürgen Zimmerer: "Deutschland hat sich im Grunde ein Eigentor geschossen, weil plötzlich der Vorwurf von zweierlei Maß da war, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen und den an Herero und Nama nicht anzuerkennen."
Der Historiker und Kolonialexperte Jürgen Zimmerer.
"Und man konnte eigentlich nur die Flucht nach vorne antreten und sagen: Wir verhandeln jetzt mit Namibia, aber eben nur mit Namibia. Und man wollte eine Einigung, Entschuldigung und Anerkennung gegen den Verzicht auf Wiedergutmachung. Und das hat nicht geklappt."

Aufarbeitung als Regierunsgsauftrag

Ein Senatsempfang im Hamburger Kaisersaal, der nach Wilhelm II benannt ist – jenem Kaiser, der fast schon wie besessen die Kolonialpolitik vorantrieb, um seinem Reich "Weltgeltung" zu verschaffen. Anlass des Empfangs war die Eröffnung des "2. Transnationalen Herero & Nama Kongresses" im April dieses Jahres. Der Kongress wiederum wurde nicht vom Hamburger Senat veranstaltet, sondern von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie die "Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland" oder dem Arbeitskreis "Hamburg Postkolonial". Mit dem Senatsempfang gab die Stadt ein wichtiges Signal für die gemeinsame Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Berlin hatte das beim "1. Transnationalen Herero & Nama Kongress" 2016 noch verweigert.
Carsten Brosda: "Wir versuchen da gerade Ansatzpunkte zu geben, wie organisieren wir den Diskurs und die Debatte und auch das Aufarbeiten im tagtäglichen Leben, im Zusammenspiel der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen."
Carsten Brosda, Kultursenator von Hamburg, SPD.
"Dafür haben wir einen "runden Tisch" initiiert, der jetzt hoffentlich intensiv arbeiten wird. Und wir haben uns einfach vorgenommen anzufangen und das zu machen, was wir machen können und uns in diesem Prozess Schritt für Schritt zu bewegen und uns ein Stück weit von diesen verdrucksten Grundsatzdiskussionen, die vielleicht anderswo geführt werden, etwas fernzuhalten."
Zum Beispiel wenn Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung preußischer Kulturbesitz, vor "nationalen Alleingängen" warnt. Damit meint er, bevor an die Rückgabe von Raubkunst gedacht werden könne, müsse es "anerkannte Handlungsrahmen", "Leitlinien" und "Maßnah-men" auf der "Ebene der europäischen Staatschefs" geben – und das kann dauern.
Carsten Brosda hat mit solchen Diskussionen Erfahrung: Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen für die jetzige Bundesregierung leitete er die Arbeitsgruppe Kunst und Kultur, die sich mit Fragen der Erinnerungspolitik auseinandersetzte.
Brosda. "Ein entscheidendes Thema war, wie wir eigentlich neben der weitergehenden intensiven Beschäftigung mit dem NS-Verbrechen und den Ungerechtigkeiten und Verbrechen der SED-Diktatur in der ehemaligen DDR uns auch mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in einer vergleichbaren Art und Weise auseinandersetzen. Das ist das erste Mal, dass das in einem Dokument, das jetzt Grundlage von Regierungshandeln ist, gemeinsam vereinbart worden ist."
Und so steht es im Koalitionsvertrag:

"Zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehören die Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur, der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch positive Momente unserer Demokratiegeschichte."

Hier "Terrorherrschaft" und "Diktatur", dort verallgemeinernd "Geschichte": Für den Historiker und Genozidexperten Jürgen Zimmerer klingt das schon wieder nach zweierlei Maß.
"Dass Kolonialismus insgesamt ein Unrechtsregime war, das ja auch gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt wurde: Das ist, glaube ich, immer noch nicht so weit verbreitet. Also man erkennt jetzt einzelne Exzesse an, aber noch nicht die strukturellen."

Strukturell hapert es auch noch bei der Frage, wie mit der geraubten Kunst umgegangen werden soll, die in deutschen Museen lagert oder ausgestellt wird. Und wie mit den menschlichen Leichenteilen, die als Forschungsobjekte dazu dienten, die Minderwertigkeit bestimmter Rassen nachzuweisen und so den Kolonialismus zu legitimieren. Der Koalitionsvertrag spricht auch hier von "Aufarbeitung". Ähnlich wie bei der NS-Raubkunst soll die Provenienzforschung vorangetrieben werden. Jürgen Zimmerer reicht das nicht. Gemeinsam mit dem Übersee-Museum in Bremen arbeitet er an einem Projekt, die fragwürdige Herkunft ethnologischer Sammlungen grundsätzlich zu dokumentieren und transparent zu machen.
Zimmerer: "Hier interessiert uns vor allem der Übergang aus afrikanischer Hand in europäische Hand, also der ursprüngliche Wechsel. Wie gewaltförmig war der, wie fair war der? Man muss im Grunde die Beweislast umkehren, weil das Machtungleichgewicht im Kolonialismus so groß war, dass man eigentlich von einem unrechtmäßigen Kontext ausgehen muss, bis das Gegenteil bewiesen ist."
Dieser Forschungsansatz steht diametral entgegengesetzt zur Einstellung des Deutschen Museumsbundes. In seinem neuen "Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten", den Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Mai vorstellte, ermahnt er seine Mitglieder:
Denkmal von Hosea Kutako in Windhoek, Namibia
Denkmal von Hosea Kutako, Führer der Herero im Befreiungskampf gegen die deutsche Kolonialmacht in Windhoek, Namibia.© imago/IPON

"Die derzeit geltende Rechtsordnung – dies gilt sowohl für das deutsche Recht als auch für das Völkerrecht – hält keine geeigneten Instrumente zur Klärung von Eigentumsfragen rund um Erwerbungen aus kolonialen Kontexten bereit."

Wolfgang Kaleck: "Das ist natürlich eine Haltung, die ist absolut unerträglich. Da ist mir einfach noch zu viel Kolonialherrentum unterwegs."
Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte.
"Geschrieben haben diesen Abschnitt im Museumsleitfaden zwei Justitiare von zwei Museen, von denen wir ausgehen müssen, dass sie eine Menge solchen strittigen Gutes beherbergen, Berlin und Dresden, die überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, dass außerhalb von Deutschland sehr wohl die Diskussionen in Bewegung geraten sind, und zwar sowohl in der Rechtswissenschaft als aber auch bei einzelnen Gerichten außerhalb von Deutschland. Und das ist halt das Unerträgliche: Anstatt dass man eine Kommission damit beauftragt von neutralen Experten, lässt man die eigenen Leute schreiben und unangefochten behaupten, dass die Rechtslage dieselbe sei wie vor 110 Jahren. Und das geht natürlich gar nicht. Aber das zeigt die Einstellung: Man möchte nichts herausgeben, man möchte sagen, ´es gibt keine juristischen Ansprüche, sondern allenfalls ist es als Wohltat möglich, dass wir das eine oder andere herausgeben`. Also diese Haltung muss irgendwann mal jetzt zum Ende kommen, die ist einfach reaktionär."
Mitunter auch dumm und demütigend. Etwa wenn, wie jetzt am 29. August, im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes im Berliner Französischen Dom während der Kolonialzeit von Herero und Nama geraubte Gebeine an eine mehrköpfige Regierungsdelegation aus Namibia übergeben werden sollen, Repräsentanten der gegen die Bundesregierung klagenden Herero und Nama jedoch nicht eingeladen werden. Auch stehen Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich mit der Aufarbeitung des Völkermords befassen, nicht auf der Gästeliste. Versöhnung geht anders.
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