Verborgene Seiten eines umstrittenen Theologen

Ueli Greminger im Gespräch mit Ralf Bei der Kellen |
Der 1801 verstorbene Johann Caspar Lavater gilt als Erfinder der Physiognomik, einer zweifelhaften Lehre, nach der die Gesichtszüge eines Menschen dessen Charakter offenbaren. Pfarrer Ueli Greminger zeichnet in seinem Buch über Lavater jedoch ein anderes Bild: das eines aufmüpfigen Individualisten.
Ralf Bei der Kellen: Auch Johann Caspar Lavater stammte aus der Schweiz, genauer gesagt, aus Zürich. Den meisten Menschen dürfte er heute als Erfinder der Physiognomik bekannt sein, jener größtenteils veralteten, aber von einigen noch immer heftig diskutierten Lehre, nach der sich der Charakter eines Menschen an seinen Gesichtszügen ablesen ließe. Nur wenigen dürfte dagegen bekannt sein, dass Lavater sozusagen "im Hauptberuf" Pfarrer der Reformierten Kirche war und 15 Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahr 1801 der St.-Peter-Kirche in Zürich vorstand. Heute bekleidet der Pfarrer Ueli Greminger dieses Amt. Er hat jetzt ein Buch über seinen berühmten Vorgänger geschrieben. Der Titel: "Johann Caspar Lavater – Berühmt, berüchtigt – neu entdeckt".

Berühmt war der 1741 geborene Lavater bei seinen Zeitgenossen vor allem durch seine vielen Schriften. Sein – zunächst anonym erschienenes – "Geheimes Tagebuch" war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein echter Bestseller. Hinzu kamen seine vielen Freundschaften und Briefwechsel mit großen Gelehrten, darunter Pestalozzi, Goethe und Rousseau. Berüchtigt wurde er vor allem nach seinem Tod, als die Nazis die von ihm aufgestellten Grundsätze zur Physiognomik für ihre Zwecke missbrauchten. Neu entdeckt hat Greminger jetzt den Theologen Lavater. Ich wollte in unserem Gespräch, das wir vor der Sendung aufgezeichnet haben, zunächst von Greminger wissen, wodurch seine Beschäftigung mit Lavater ausgelöst wurde?

Ueli Greminger: Das ist eigentlich eine lange Geschichte, die damit begonnen hat, dass ich mich eigentlich über die meiste Zeit meines Lebens nicht mit Lavater befasst habe. Als ich damals in Zürich und Wien Theologie studierte, war Lavater kein Thema. Und auch 2006, als ich Gespräche führte mit der Pfarrer-Kommission der Kirchgemeinde St. Peter, war Lavater kein Thema. Thema war die liberale Theologie. Ironie der Geschichte, denn Lavater ging sozusagen vergessen und sein Freund Johann-Wolfgang Goethe hat sich mehr oder weniger durchgesetzt mit seiner weltoffenen, liberalen Religiosität. Mit seinem liberalen Weltsinn. 2009 kam der Band "Das geheime Tagebuch" heraus. Und das hat mich dann interessiert und fasziniert. Ich habe drin gelesen und habe sofort gemerkt, da ist eine besondere Theologie enthalten, Stichwort "Die Freundschaft mit sich selbst". Und seit dieser Zeit hat mich das Thema beschäftigt, begleitet.

Bei der Kellen: Da haben Sie schon das Stichwort gegeben, Freundschaft mit sich selbst. Zu Anfang des anonym veröffentlichten geheimen Tagebuches schreibt Lavater ja den Satz: "Wer nicht sein eigener Vertrauter ist, der kann nie ein Freund Gottes und der Tugend werden." Wie hat sich denn dieser Grundsatz eigentlich in Lavaters Theologie geäußert?

Greminger: Ein Freund Gottes sein, das bedeutet bei Lavater doch eigentlich immer auch bei sich selber sein. Was Lavater unter keinen Umständen wollte, das war, dass der christliche Glaube dazu führt, dass man vor sich selber flieht. Das bezeichnete er dann als Heuchelei. Lavater hat zeit seines Lebens Tagebuch geführt. Also das Tagebuchschreiben ist ein wesentlicher Teil seines theologischen Denkens. Das darum geht, mit aller Aufrichtigkeit sich den Empfindungen zu stellen und so sich irgendwie der Wahrheit der Seele anzunähern. Dabei sollen doch auch die Widersprüche zugelassen und beschrieben werden können. Das ist doch dann immer eine Theologie, die auch Psychologie ist.

Bei der Kellen: In Ihrem Buch gibt es ein Zitat von Lavater, das mich zuerst sehr verwundert hat. Da steht nämlich, ich zitiere: "Nur der Satan will kriechende, genusslose Märtyrer. Religion ist ein geistiger Genuss unsichtbarer und ewiger Dinge. Völlige Nullitäten sind für mich, für meinen inneren Menschen, für meine Religion, für meinen Gottesgenuss die Namen Zwingli, Calvin, Luther, Papst, Konzilium, reformiert, lutherisch, katholisch." Herr Greminger, das klingt aber doch sehr aufsässig beziehungsweise autoritätsfeindlich. Trifft das auf Lavater zu?

Greminger: Das ist doch ein sehr schönes Zitat, das Sie da gelesen haben. Lavater war doch eigentlich Zeit seines Lebens aufmüpfig, aufsässig, er soll schon als Schüler mal zu einem Lehrer gesagt haben, er sei ein Tyrann. Es ist dann im zweiten Kapitel meines Buches die Geschichte mit dem Gräbelhandel beschrieben, wo es darum ging, den korrupten Landvogt, Felix Gräbel, zu überführen. Da war Lavater zusammen mit Johann Heinrich Füssli doch sehr frech, dass sie da ein anonymes Flugblatt verteilt haben. Das stimmt. Lavater war Zeit seines Lebens sehr aufmüpfig, frech, voller Zivilcourage, auch am Ende seines Lebens, da beim Einmarsch der Franzosen, hat er sich gewehrt, hat einen Brief nach Paris geschrieben, das passte den Zürchern gar nicht. Er wurde inhaftiert, freigelassen, er wurde dann nach Basel deportiert, hat da wieder einen sehr frechen Brief geschrieben, kam dann wieder frei, und so ging es weiter. Ja, es ist ein Zug seines Lebens.

Bei der Kellen: Das Buch, in dem Lavater seine Ideen zur Physiognomik darlegte, hieß ja mit vollem Titel "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe". Lavaters ursprüngliche Absicht war also, dass die Verbesserung der physiognomischen Wahrnehmung der Vertiefung der Menschenliebe dienen sollte. In dem Versuch, aus der Physiognomik aber dann eine Wissenschaft zu machen, kam dies dann aber eben abhanden. Hatte Lavater in jenem Moment, da sich der Theologe dem aufklärerischen Zeitgeist anbiederte, ja, vielleicht Geister gerufen, die er dann nicht mehr loswurde, um es mal mit seinem Freund Goethe zu sagen?

Greminger: Richtig. Es gehört zu Lavater, dass er zeit seines Lebens wirken wollte. Er wollte etwas bewirken. Was lag näher, als sich dem Geist seiner Zeit zu öffnen, und das bedeutete, sich der Naturwissenschaft zu öffnen. So wurde aus seiner Physiognomik doch eine Wissenschaft, oder er versuchte es wenigstens, und damit verließ er tatsächlich die Theologie im Sinn der Menschenkenntnis und der Menschenliebe. Also da ist ein Widerspruch, der sich kaum auflösen lässt. Ich denke, Lavater war sich der Konsequenzen kaum bewusst, die seine Physiognomik haben könnte. Er war immer darum bemüht, sie mit der Menschenkenntnis und der Menschenliebe, also mit der Theologie verbunden zu halten. Das hat er immer wieder betont, dass sie sich nicht verselbstständigen sollte, die Physiognomik. Aber er konnte das natürlich nicht verhindern.

Bei der Kellen: War Lavater eigentlich mit seiner Liberalität und eben mit seiner Lustbetontheit sozusagen, tja, die Antithese von Calvin?

Greminger: Könnte man natürlich schon sagen, dass er alles andere als ein Calvinist war. Was er aber immer betont hat, dass er mit seinem Reformator, Ulrich Zwingli, doch sehr verbunden war. Aber das Zitat, das Sie gelesen haben von diesem genusslosen Märtyrer – er will das nicht sein, er will kein Calvinist sein. Er will ja auch nicht einfach nur ein Reformierter sein. Er will auch nicht nur ein Pfarrer sein oder ein Seelsorger – er will mehr sein. Er will jedem Menschen ein besonderes Gegenüber sein. Er will, sagt er und schreibt er immer wieder, allen alles werden. Wie eben Christus auch jedem Menschen ein besonderer Mensch wurde, also allen alles werden, das war ihm wichtig, ja.

Bei der Kellen: Erst ganz zum Schluss taucht ja in ihrem Buch die Episode mit Moses Mendelssohn auf, die Lavater, tja, in einem eigentlich sehr unrühmlichen Licht zeigt. Da fordert der sonst so tolerante und der Zukunft zugewandte Christ einen der größten jüdischen Philosophen seiner Zeit heraus, einen christlichen Gottesbeweis zu widerlegen, oder eben, wenn er dies nicht vermöchte, so konsequent zu sein und dann bitteschön auch zu konvertieren. Warum hat Lavater das gemacht?

Greminger: Das habe ich mich auch immer wieder gefragt und ich habe doch eigentlich keine Antwort auf Ihre Frage. Ich versuche mal eine Erklärung zu liefern. Lavater war noch sehr jung, als die Affäre mit Moses Mendelssohn da eigentlich durch ganz Europa die Öffentlichkeit bewegte. So gegen 30. Er hat damals an den "Aussichten in die Ewigkeit" geschrieben, hat von der Himmelssprache geschwärmt. Er hat von einer Geistreligion geschwärmt. Er ging davon aus, dass in Zukunft alle fortschrittlichen Geister sich zu dieser neuen Art von Religion hinwenden würden. Also das hat er dann so von Herder, von Goethe, sogar von Immanuel Kant hat er das erwartet, und ja eben auch von dem Juden Moses Mendelssohn, den er doch eigentlich sehr bewundert hat.

Er hat ja gefunden, ja, so wie ich zwar reformiert bin, aber diese Konfession transzendiere und eine universale Religiosität, eine Himmelssprache suche, so sollen das doch auch die anderen tun. Und er versuchte da, alle in sein Boot reinzuholen, und gerade der Moses Mendelssohn, der so talentiert war und der so schön schreiben konnte, der so aufgeklärt war, dass er den mitnehmen konnte in seinem Boot, ja. Und es war ihm offensichtlich nicht bewusst, was er dann diesem armen Moses Mendelssohn damit angetan hat.

Bei der Kellen: Dass der sich nämlich dann in der Öffentlichkeit quasi rechtfertigen musste. Herr Greminger, was kann denn die Kirche im 21. Jahrhundert noch von Lavater lernen?

Greminger: Ich denke, dass Lavater ein neues Verständnis des christlichen Glaubens vorgezeichnet hat, indem er das Bildungsideal seiner Zeit in eine neue Form auf die Theologie übertrug. So hat er den christlichen Glauben aus dem Korsett des dogmatischen Glaubens, der moralisierenden Frömmigkeit und des reinen Vernunftdenkens befreit. Er bahnte den Weg zu einer individuellen Christlichkeit, die aber nicht von Tradition, von Dogma, von Moral genährt wird, sondern von der Empfindsamkeit des Individuums. Und diese Empfindsamkeit nährt die Fantasie, ermöglicht die Freundschaft, eben auch die Freundschaft mit sich selber. Und vertraut der Beobachtungsgabe des einzelnen Menschen.

Diese neue Art von Religiosität hat sich von der traditionellen Form gelöst, es ist so etwas wie ein freies Nachdenken, ein freies Philosophieren, das allerdings nicht nur Pflege einer individuellen Frömmigkeit meint, sondern sein Wesen findet durchaus im Aufdecken von Wahrheit. Im persönlichen, aber auch im öffentlichen Bereich. Und die Lebensgeschichte von Lavater zeigt, dass eben damit sowohl Zivilcourage im Bereich des öffentlichen Lebens, in Kirche und Staat, als auch das kritische Hinterfragen von Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit gemeint ist.

Bei der Kellen: Also ist der Theologe Lavater durchaus noch ein Vorbild für Theologen im 21. Jahrhundert.

Greminger: Eigentlich wäre der Lavater geradezu dafür prädestiniert, so etwas wie ein Kirchenvater des 21. Jahrhunderts zu werden. Da es ja tatsächlich darum geht, die Individualität des Menschen auch auf religiösem Gebiet ernst zu nehmen und nicht davon auszugehen, dass dann die Beliebigkeit überhand nimmt, dass man Angst hat, dass sich die Kirchen noch mehr leeren, sondern dass man dem Menschen als Einzelperson zutraut, dass er da seinen Weg selbst bestimmt und da kommt dann auch das Zitat am Schluss, das ich sehr schön finde und das auch in unsere Zeit sehr schön passt. Das Zitat lautet: "Keiner soll des anderen ganzen Glauben, jeder soll einen eigenen, individuellen Glauben wie ein eigenes Gesicht haben."

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ueli Greminger: Johann Caspar Lavater - Berühmt, berüchtigt, neu entdeckt
Theologischer Verlag, Zürich 2012
122 Seiten, 19,90 Euro
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