Verborgene Ängste

Von Andreas Roth |
So gegensätzlich der Iraner Mahmud Ahmadinedschad, die christliche Rechte in den USA, religiöse Zionisten und die Hamas auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie alle bereiten das Kommen ihres Messias vor. Sie sind Apokalyptiker. Europäern indes ist die Vorstellung von der Endzeit fremd geworden. Dabei gehört sie zum kulturellen Erbe auch des Abendlandes.
Preißler: "Also die Endzeit ist immer da. Das wird eigentlich immer nur verdrängt, und das ist das, was vielleicht so erstaunt. Und wir verdrängen es auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung."

Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll. Und er hat sie durch seinen Engel gesandt und seinem Knecht Johannes kundgetan.

Kippenberg: "Wir sind alle religiöse Analphabeten geworden, wir verstehen davon nichts mehr. Weil mir meinen, die Geschichte habe zu einer Privatisierung des Glaubens geführt. Aber nun tritt er uns in anderen Formen entgegen, in politischen Formen."

Und ich sah: Da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde.

Körtner: "Die Frage, die in der Apokalyptik zu beantworten ist: Gibt es Hoffnung? Diese Frage wird bejaht. Durch eine Katastrophe hindurch ist Heil zu erreichen."

Und ich sah aus dem Rachen des Drachen und aus dem Rachen des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister kommen, gleich Fröschen. Es sind Geister von Teufeln, die tun Zeichen und gehen aus zu den Königen der ganzen Welt, um sie zu versammeln zum Kampf am großen Tag Gottes, des Allmächtigen. Und er versammelte sie an einen Ort, der heißt auf Hebräisch Armageddon.

Armageddon, den Ort der großen Endzeitschlacht aus der biblischen Johannesapokalypse, gibt es wirklich: Er liegt im Norden Israels, an den Ausläufern des Karmelgebirges. Hier soll nach den Worten des Sehers Johannes am Ende der Zeit der letzte und siegreiche Kampf Gottes gegen die Macht des Bösen ausgefochten werden. Dabei wohnt dem Land im Nahen Osten bereits heute eine ganz irdische Sprengkraft inne. Denn hier verknoten sich die apokalyptischen Hoffnungen aller drei monotheistischen Weltreligionen auf unentwirrbare Weise - und kollidieren miteinander.


Die Stunde des Endes wird nicht kommen, bevor die Muslime die Juden bekämpfen, bis sich die Juden hinter Bäumen und Felsen verstecken und die Bäume und Felsen sagen werden: Oh Ihr Muslime, Ihr Diener Gottes, hier sind die Juden, kommt und tötet sie! - Spruch des Propheten Mohammed.

Wenn Staaten einander bekämpfen, erwarte das Kommen des Messias. Alle Kriege bereiten das Erscheinen des Messias vor - Rabbi Zwi Jehuda Kuk, Vater des religiösen Zionismus.

Die palästinensische Hamas und die religiösen Zionisten in Israel hoffen beide auf das Kommen eines Messias, der die alte Welt vernichten und eine neue, bessere Welt hervorbringen soll. Sie sind Apokalyptiker. Ganz im Zentrum des heutigen Nahostkonfliktes, in Jerusalem, nahm vor mehr als zweitausend Jahren die Apokalyptik der großen monotheistischen Weltreligionen ihren Anfang. Alles begann im 2. Jahrhundert vor Christus, als der griechische Herrscher Antiochus IV. Epiphanes Jerusalem eroberte. Dieser Nachfahre Alexanders des Großen wollte die Juden mit Zwang hellenisieren, im Jerusalemer Tempel ließ er das Bild eines griechischen Gottes aufstellen. Für jene frommen Juden, die das biblische Daniel-Buch schrieben, war diese Schmach so groß und so ausweglos, dass sie nur noch von einem Ende der Weltgeschichte und einem göttlichen Gericht Rettung erhofften.
Zu jener Zeit wird Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk eintritt, sich aufmachen. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

Körtner: "Man war politisch entmachtet und man fühlte sich auch kulturell und religiös ohnmächtig. Die Frage, die die Apokalyptiker des Judentums in der Spätantike umgetrieben hat, war: Wo bleibt eigentlich ihr Gott, der Gott JHWH, wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn diejenigen, die versuchen, Toratreu zu bleiben - also den jüdischen Gesetzen zu folgen und den alten Glauben zu bewahren - in der Welt eigentlich so ohnmächtig und hilflos dastehen."

Ulrich Körtner, Professor für evangelische Theologie an der Universität Wien, hat die religiösen Wurzeln der jüdischen und christlichen Apokalyptik erforscht. Zur Zeit Jesu war das biblische Danielbuch wohl eine der populärsten Schriften in Israel. Johannes der Täufer, Jesus selbst und auch seine Jünger gingen davon aus, dass das Ende der Welt und Gottes Gericht nahe bevorstehen. Die ersten Christen und die Autoren des Neuen Testamentes deuteten ihren Glauben an die Auferstehung Jesu in apokalyptischen Farben und Begriffen. Und als mehr als ein halbes Jahrtausend später aus jüdischen und christlichen Traditionen in Medina und Mekka eine neue Weltreligion entstand, erbte auch sie die Apokalyptik.

Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Wenn die Sonne zusammengefaltet wird und die Sterne herabfallen und die Berge sich fortbewegen und die schon zehn Monate trächtige Kamelstute der Milch entbehrt und die wilden Tiere zusammenlaufen und die Meere in Flammen aufgehen und die Seelen sich mit den Körpern wiederverbinden und wenn die Bücher offen gelegt und die Himmel weggezogen werden und wenn die Hölle lichterloh brennt und das Paradies nahe gebracht wird, dann wird jede Seele wissen, was sie getan hat. Der Koran, 81.

Preißler: "Man rechnete mit dem Ende der Welt. Mohammed wird nachgesagt, dass man ihn fragte: Wie nah ist denn das Ende der Welt? Da hat er den Zeige- und den Mittelfinger aneinander gerieben und gesagt: So. Also man war von der Stimmung gepackt: Das Ende ist nah."

Der Islamwissenschaftler Holger Preißler, Professor an der Universität Leipzig. Schon Mohammed wusste die Apokalyptik auch zu politischen Zwecken zu nutzen. Die kriegerischen Schlachten zur Ausbreitung seiner neuen Religion propagierte der Prophet als Teil des großen Endzeitkrieges zwischen Gut und Böse.

Doch erging es dem frühen Islam nicht anders als dem Urchristentum: Als das erwartete nahe Weltende ausblieb, rückten die apokalyptischen Hoffnungen immer weiter in den Hintergrund. Man arrangierte sich mit den Gegebenheiten der Welt. In Kriegs- und Krisenzeiten jedoch loderten die endzeitlichen Bilder immer wieder auf. Hoffnung und Angst angesichts des nahe bevorstehenden jüngsten Gerichtes bestimmten im Mittelalter das Lebensgefühl der meisten Europäer. Kreuzzüge wurden so begründet, und später auch die Bauernaufstände und Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhunderts.

Kippenberg: "Von dem Moment an, wo man sich aufmacht, die Gesellschaft neu zu erschaffen, also eigentlich mit der französischen Revolution, kommt zum ersten Mal die Idee auf: Die bestehenden Verhältnisse sind verbesserbar. Fortschrittsglaube, der auch gute Gründe hat: Es werden technische Erfindungen gemacht, das Wissen der Menschen wird viel größer, die Lebensdauer von uns wird verlängert - es gibt viele Elemente, aus denen man erkennen kann: Es gibt so etwas wie Fortschritt und die menschliche Geschichte ist machbar."

Der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg, Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Die Aufklärung wollte mit der finsteren Vorstellung eines Weltendes aufräumen. Die Zukunft sollte offen sein, licht, verbesserbar.

Kippenberg: "Aber es gibt im selben Moment genau jene anderen Auffassungen, die anfangen nachzurechnen: Fortschritt sehe ich nicht, wo ist Fortschritt? Ich sehe Technisierung, Großstädte entstehen mit Hochhäusern, aber auch mit Slums. Ich sehe ein modernes Erziehungssystem entstehen, aber ich sehe, dass die Menschen zunehmend an ihrem eigenen Glauben zweifeln. Also: Die Erfahrung von Moderne als Riesen-Verunsicherung, alles wird verflüssigt, keinerlei Gewissheit mehr, hat gerade in den USA - einem Land, wo vielleicht die Moderne am stärksten zugeschlagen hat - einen Mittelstand mit hervorgebracht, der angefangen hat, Inseln der Gewissheit herauszubilden."

So entstand in den USA ein fundamentalistisches Christentum - das Milieu der christlichen Rechten. In ihm wird die Vorstellung vom nahen jüngsten Gericht verbunden mit einer konservativen Haltung, die sich scharf gegen Liberalismus und Säkularismus sowie Linke, Homosexuelle und Frauenrechtlerinnen abgrenzt. Mittlerweile ist die Christian Right zu einer der größten und politisch mächtigsten Bewegungen in den USA aufgestiegen.

Die ganze Welt seufzt und leidet in einem Maße, das vorher in der menschlichen Geschichte unbekannt war: Die Flüchtlinge, die Verhungerten, die neuen Sklaven, die psychologischen Leiden, die emotionalen Erregungen, die geschiedenen Heiraten, die aufsässigen Kinder, der Terrorismus und die Geiseln, die Kriege und die tausend anderen Plagen, die von jedem Land in dieser Welt Besitz ergriffen haben. Es gibt nirgends Leute, die dagegen immun sind. Die Reichen und die Berühmten leiden ebenso wie die Armen und die Unbekannten. Es scheint so, dass die menschliche Rasse auf einen Höhepunkt der Tränen, der Schmerzen und der Wunden des Jahrhunderts zusteuert – Armageddon. Billy Graham, Fernsehprediger und Präsidentenberater.

In diesen Ängsten unterscheidet sich Amerika keineswegs grundsätzlich von Europa. Auch hier gab es im 19. und 20. Jahrhundert angesichts der Moderne keinen Mangel an Verunsicherten und tatsächlichen Verlierern, die zu apokalyptischen Hoffnungen Zuflucht suchten.

Kippenberg: "In Deutschland geht nun die Entwicklung insofern anders, als diese Strömungen absorbiert werden von einem antireligiösen Marxismus. Dann wird dort statt Weltgericht von der Weltrevolution geträumt. Aber das ist auf derselben Ebene, es beantwortete dieselben Nöte von Menschen, dieselben Fragen von Menschen."

Das Jahr 1967 wird das entscheidende Datum für die Apokalyptiker aus allen drei monotheistischen Weltreligionen. Der überwältigende Triumph der israelischen Armee im so genannten Sechs-Tage-Krieg – vor allem aber die Eroberung Jerusalems - gilt vielen Christen und Juden als ein göttliches Zeichen, dass die Endzeit nahe bevorsteht. Denn fundamentalistische Juden und Christen sehen in der Errichtung eines Groß-Israel die Bedingung für das Kommen ihres jeweiligen Messias. Der ursprünglich säkular und national motivierte Zionismus wird religiös aufgeladen.

Ständig werden neue Siedlungen, Kibbuzim und Städte gebaut. Welches Glück, dieser Verwirklichung von Gottes Wort teilhaftig zu werden. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Erlösung, den man als Teil der göttlichen Vorsehung erkennen muss. Die Welt ist nicht sich selbst überlassen; Gott hat die Welt nicht verlassen. Am Ende der Tage wird sich ein Zustand der Rückkehr zum Land offenbaren. Genau dies findet jetzt unter uns, durch uns statt! – Rabbi Zwi Jehuda Kuk.

Die Anhänger des von Rabbi Kuk begründeten religiösen Zionismus wollen durch aktives politisches und mitunter auch gewalttätiges Handeln die Errichtung Großisraels und damit das Kommen des Messias beschleunigen. Für viele orthodoxe Juden indes ist diese Haltung ein Ausdruck reinen Unglaubens – der Messias brauche keine menschliche Hilfe, erwidern sie. Doch der religiöse Zionismus gewann nach 1967 schnell viele Anhänger und wurde zum ideologischen Fundament der Siedlerbewegung Gush Emunim, des "Blockes der Gläubigen" mit heute schätzungsweise 100.000 Mitgliedern. Mit enormer finanzieller und politischer Unterstützung der christlichen Rechten in den USA bauen sie ihre Siedlungen im Westjordanland aus und torpedieren jedes Friedensangebot an die Palästinenser.

In der muslimischen Welt entfachte der Sechs-Tage-Krieg ebenfalls aufs Neue apokalyptische Vorstellungsmuster. Man suchte nach einem Weg, die überraschende Niederlage der stolzen arabischen Nationen Ägypten, Syrien und Jordanien zu bewältigen.

Kippenberg: "Die Nagelprobe war Israel. Dass dann die Auseinandersetzung mit diesem ungeliebten Israel zu so einer verheerenden Niederlage geführt hat 1967: Nach 6 Tagen war der Krieg vorbei und die israelischen Truppen schauten schon auf Kairo. Das war so ein unglaublicher Schock. Dass das Versprechen des arabischen Nationalismus so schäbig gestrandet ist 1967."

Aus diesem Grund übernehmen seitdem zunehmend islamische Bruderschaften politische und soziale Funktionen in den arabischen Gesellschaften. Die Hoffnungen vieler Muslime richteten sich nun nicht mehr auf den Sozialismus oder Nationalismus, sondern auf den islamischen Messias: Den Mahdi, der am Ende der Zeit ein islamisches Weltreich der Gerechtigkeit aufrichten soll.

Solche apokalyptischen Stimmungen kristallisieren sich besonders um bestimmte Jahreszahlen. In der christlichen Welt war das Jahr 2000 ein solches Datum, an dem sich Erwartungen einer Wende oder gar eines Endes der Geschichte festmachten.

Preißler: "Die Muslime hatten diesen Wechsel des Jahrhunderts im Jahr 1979, das Jahr 1400 begann damals nach der islamischen Zeitrechnung. Und da merkte man, wie plötzlich bestimmte Ereignisse, die in diesem Rahmen stattfanden, auf diese Hoffnung einer Erneuerung oder die Ängste eines Endes gesetzt wurden. Im Besonderen wurde das verbunden und dann auch instrumentalisiert von politisch-religiöser Seite im Zusammenhang mit der islamischen Revolution im Iran im Jahr 79. Das war Endzeitstimmung."


Nicht nur die Revolution, der gesamte schiitische Gottesstaat im Iran ruht auf apokalyptischen Fundamenten. Schiitische Moslems hoffen auf das Kommen des 12. Imam Mohammed al-Mahdi. Nach ihrer Tradition ist dieser Nachfolger des Propheten im 10. Jahrhundert in die Verborgenheit gegangen und wartet dort unsterblich auf die Zeit, in der er als Mahdi-Messias zurückkehren und ein weltweites muslimisches Königreich der Gerechtigkeit aufrichten wird. Ganz so wie die religiösen Zionisten hat auch die iranische Verfassung das Ziel, das Kommen ihres Messias vorzubereiten.

Oh Ihr Gläubigen! Ich bin der Prophet, und Ali ist mein Erbe, und von uns wird abstammen der Mahdi, das Siegel der Imame, und er wird alle Religionen erobern und Rache nehmen an den Übeltätern. Er wird die Festungen einnehmen und sie zerstören, alle Stämme der Götzendiener vernichten, und er wird Vergeltung üben für den Tod jedes Märtyrers Gottes. Spruch des Propheten Mohammed

In unseren Tagen lässt sich im Irak der radikale Schiitenführer Muqtada al-Sadr mit seinen Mahdi-Milizen von dieser Hoffnung auf das baldige Kommen des Messias leiten. Auch die Außenpolitik des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad dürfte hier einige ihrer Wurzeln haben. In einer Rede vor der UN-Vollversammlung betete er öffentlich für das schnelle Kommen des Imam-Mahdi. Der in der arabischen Welt oft zitierte Prophetenspruch, wonach die Bekämpfung der Juden die Voraussetzung für das Kommen des Mahdi sei, wird ihm gut bekannt sein. In einer Freitagspredigt verkündete der iranische Präsident:

Heute sollten wir unsere ökonomischen, kulturellen und politischen Maßnahmen neu definieren auf der Basis einer Politik, welche die Rückkehr des Imam Mahdi zum Inhalt hat. Wir sollten es vermeiden, die Politik und das System des Westens nachzuahmen.
In der Rhetorik Ahmadineschads bricht die revolutionäre Gewalt der Apokalyptik auf. Der iranische Klerus hingegen hat sich nach der gewonnenen Revolution von 1979 bemüht, diesen Geist wieder einzufangen, nachdem er ihn benutzt hatte. Nun ist mit dem iranischen Präsidenten ein Mann an der Regierung, der anders als seine Vorgänger kein Theologe ist und der sich auf die Revolutionsgarden stützt – auf Männer, die in der islamischen Revolution und im iranisch-irakischen Krieg religiös sozialisiert wurden und die am apokalyptischen Erbe dieser Zeit festhalten.

Preißler: "Ist es also gegenwärtig eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen einem Klerus, der seine Macht erhalten will und damit alles versucht, um mobilisierende Tendenzen auszuschalten, die im apokalyptischen Denken drin sind. Und auf der anderen Seite mobilisierende Kräfte, die die Apokalyptik für sich beanspruchen möchten und wollen, aber eben Laien sind, und bei denen dann auch weniger differenzierende und einfachere Formen von Religiosität auftauchen können."

Auch außerhalb des Iran wird seit einigen Jahren auf den Basaren und in den Bücherständen vor den Moscheen eine Vielzahl von Büchern und Tonträgern mit apokalyptischen Inhalten angeboten. Sie erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Autoren sind keine Theologen, sondern Schriftsteller mit oft einfach gestrickten religiösen Ansichten. Ihre endzeitlichen Vorstellungen kopieren sie dabei nicht selten aus der biblischen Johannesapokalypse, aus Schriften fundamentalistischer Christen und aus westlicher Science-Fiction-Literatur.

Das ist der Ruf und die Ankündigung der Qual, welche die gesamte Welt, alle Nationen und alle Menschen ohne Ausnahme heimsuchen wird. Es werden so viele getötet werden, dass es keinen Platz mehr gibt, um sie zu begraben, und viele Seuchen werden das Resultat davon sein. Alle Flugzeuge und Satelliten werden aus dem Himmel fallen. Dies wird Allahs Rache sein wegen der Ziele von Zion, weil es die Menschheit ins Verderben führte, und wegen der großen jüdischen Arroganz - Bashir Muhammad Abdallah, Bestsellerautor.

Warum diese Gewaltfantasien? Wahrscheinlich steht hinter ihnen ein Gefühl der Demütigung – der Demütigung einer muslimischen Welt, die sich vom Mittelalter an bis in die Neuzeit stolz als dem Abendland kulturell überlegen fühlte und nun registriert, dass sie seit dem Untergang des Osmanischen Reiches von Stärke, Wohlstand, letztlich von der Moderne weit entfernt ist.

Körtner: "Apokalyptik ist ein Krisenphänomen, Apokalyptik reflektiert historische Krisenerfahrungen. Zur apokalyptischen Grunderfahrung gehört die Erfahrung massiven Unheils, zu dieser Erfahrung von Unheil gehört genauer die Erfahrung von Unrecht, von ungerechten Strukturen, Strukturen des Bösen, in denen wir leben. Die Welterfahrung des Apokalyptikers ist in starkem Maße durch die Grundstimmung der Weltangst geprägt."

Der Theologe Ulrich Körtner hat versucht, den religiösen, philosophischen, letztlich den existentiellen Gründen der Apokalyptik auf die Spur zu kommen.

Körtner: "Die gegenwärtige Wirklichkeit wird als eine in sich abgeschlossene Welt angesehen, aus der so kein Ausbruch möglich ist. Und das entspricht der apkalyptischen Weltsicht, dass die Welt als solche, die soziale Welt und die politische Ordnung, nicht verbesserungsfähig ist sondern eigentlich zerstört werden muss. Aber nicht, weil man die Zerstörung um der Zerstörung willen will, sondern weil man auf eine gerechte und heilvolle Gegenwelt hofft."

Aus dieser Weltwahrnehmung wächst auch der islamistische Terrorismus unserer Tage. Auch er meint, in einer Zeit des moralischen und religiösen Verfalls zu leben. Auch er fühlt sich in einem kosmischen Krieg auf Seiten Allahs im Kampf gegen Satan. Auch er hofft auf das Jenseits. Und auch er strebt ein Weltreich an, in dem die wahre Religion und die Gerechtigkeit uneingeschränkt herrschen.

Körtner: "Die Frage, die in der Apokalyptik zu beantworten ist: Gibt es Hoffnung? Diese Frage wird bejaht indem gesagt wird: Es muss so etwas wie einen Weltuntergang geben. Erlösung oder einen Zustand des Heils kann es nur jenseits einer solchen Weltkatastrophe geben. Und die Hoffnung ist paradoxerweise Hoffnung auf die Katastrophe."

Bin Laden ist nicht der Feind. Kein Sterblicher ist der Feind. Es ist der Feind, den du nicht sehen kannst. Es ist der Krieg gegen die Kräfte der Dunkelheit. Satan will diese Nation zerstören, er will uns als Nation zerstören und er will uns als christliche Armee zerstören - William Boykin, General der US-Army.

General William Boykin leitet die Geheimdiestaktivitäten im US-Verteidigungsministerium. Wahrscheinlich ist er damit einer der Verantwortlichen für die Foltermethoden in Abu Ghraib und anderswo. Doch trotz weltweit scharfer Kritik wird er von Präsident Bush im Amt gehalten. Das verwundert nicht. Denn George W. Bush teilt wohl die apokalyptischen Motive seines Generals. Der Präsident lässt sich von fundamentalistischen Predigern beraten und denkt – genau wie sein Vorbild Ronald Reagan - in endzeitlichen Kategorien.

Kippenberg: "Und er spricht ja auch diese Sprache: Die Reden, die er gehalten hat, sind ja voll von Bezügen auf Apokalyptik: Es gibt nur gute oder böse. Es gibt nicht Menschen, die zugleich gut oder böse sind. Dadurch spaltet sich die Welt in die, die für die Ordnung und Zivilisation in der Welt eintreten, und jene, die sie bedrohen wollen. Also: In die Terroristen und den amerikanischen Präsidenten als Führer der Nation, die das Böse vernichtet. Das ist das eigentliche Problem, dass diese Kategorien eingewandert sind in das politische Denken der Staatsmänner."

Die Wahl George W. Bushs zum Präsidenten der USA wurde ganz wesentlich getragen vom Milieu der evangelikalen und fundamentalistischen Christen. Auf über 40 Millionen Amerikaner wird diese Gruppe heute geschätzt. Sie hat eine eigene Populärkultur hervorgebracht: Bücher in Millionenauflagen, Filme, Talkshows, Comics und Webseiten mit apokalyptischen Szenarien. Umfragen haben gezeigt, dass ein großer Teil der amerikanischen Christen an das nahe gewaltsame Ende der Welt glaubt. Ereignissen wie der 11. September und der Irakkrieg gelten ihnen als erste Anzeichen für den finalen Kampf des Guten gegen das Böse - die so genannte "Trübsal".

Körtner: "In der Apokalyptik kippt nun diese Erfahrung um, dass aus der Angst vor möglicher Zerstörung, aus der Angst vor möglicher Gewalt die Hoffnung auf Gewalt und die Hoffnung auf das Katastrophische wird. Also dass es dann Zerstörungsfantasien gibt, dass das, was mir Angst macht oder dass das, was mich bedroht und mich bedrängt, dass das nun seinerseits bedroht, bedrängt und zerstört werden soll. Das kann zunächst nur eine bloße Hoffnung sein, aber die kann auch zu Aktivitäten führen, dass man sagt: Wir sind berufen, diesen Weltuntergang auch mit herbeizuführen."

Die Taten islamistischer Terroristen, der christlichen Fundamentalisten in der US-Regierung wie auch die der religiösen Siedler in Palästina haben in der Apokalyptik eine ihrer Wurzeln. Europäischen Politikern und Beobachtern bleibt diese endzeitliche Welt zumeist verschlossen. Ratlos stehen sie vor ihr. Es fällt ihnen sichtbar schwer, auf die Gegenwart der Apokalyptik angemessen zu reagieren.

Preißler: "Man kann damit umgehen, und wir müssen damit umgehen, und wir müssen auch vor diesen Gedanken keine Angst haben. Wir können natürlich aufgeklärt damit umgehen, mit der Distanz, mit dem Abstand, den man hat. Dass man das als eine Möglichkeit, die in unserer Kultur angelegt ist, sieht, die nicht zu Zerstörungen und Brutalisierung führen muss."

Der Leipziger Islamwissenschaftler Holger Preißler plädiert dafür, das Religiöse wieder als eigene Kategorie in der Politik anzuerkennen. Die Einsicht in das apokalyptische Erbe der eigenen christlich-abendländischen Kultur kann den Blick dafür öffnen.

Preißler: "Dabei verliert man auf jeden Fall auch die Angst, man staunt vielleicht manchmal. Dass man dann auch aus säkularer Sicht mit solchen Konzepten distanziert - gewiss - und vernünftig umgeht, sie nicht von vornherein für verrückt erklärt, sondern als Humanist fragt: Warum tun sie das?"

Sind Ängste - wie es der Theologe Ulrich Körtner beschreibt - eine der wichtigsten Triebfedern apokalyptischen Denkens und der aus ihr entspringenden Gewalt, dann wäre es auch eine sicherheitspolitische Aufgabe, diesen Ängsten zu begegnen.

Körtner: "Angst ist eben nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch ein kollektives. Und da - meine ich - muss alles getan werden, damit nicht solche Ängste noch dadurch verstärkt werden, dass unreflektiert neue Feindbilder erzeugt werden. Ich sehe eine wichtige Aufgabe einer Seelsorge an Geängstigten auch darin, dass man zu Differenzierungen anleitet, dass man nach den Ursachen von Ängsten fragt und versucht, an diesen zu arbeiten, statt sich in solche fragwürdigen Bilder wie vom "clash of civilization" hineintreiben zu lassen."