Verantwortung ohne Obrigkeit

Von Rupert Graf Strachwitz |
Die Misserfolge der Bemühungen, unser Land zu reformieren, werden von Tag zu Tag bedrückender. Keine einzige der großen, mit viel Trommelwirbel angekündigten Maßnahmen scheint wirklich zu greifen. Niemand kann die täglichen Rituale des politischen Geschäfts mehr ertragen, die den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden.
Die Regierung (oder die Opposition) schlägt vor; die Opposition (oder die Regierung) lehnt ab; die Regierung (oder die Opposition) weist die Ablehnung zurück und so weiter, und so weiter. Und dann auch noch die Versuche, die ganze Misere durch Aktionismus in Nebensachen zu verdecken: ein ganzes Verkehrsentwicklungskonzept scheitert; der Verkehrsminister kündigt höhere Bußgelder für Bürger an, die mal im Auto schneller fahren, als die Behörde das gerne hätte und vor allem: mehr Kontrollen. Welch eine Leistung!

Das absurde Beispiel offenbart einen sehr grundsätzlichen Irrtum: noch immer glauben Politik und Verwaltung im Grunde genommen tatsächlich daran, dass "mehr Kontrollen", mehr Regulierung, mehr Reform von oben an unserer Situation etwas ändern könnten. Der Bundeskanzler kann einem direkt leid tun, denn er wird heute an einem Satz gemessen, der schon 1998 falsch war, als er ausgesprochen wurde: er wolle, so hat er damals gesagt, bei einer Wiederwahl daran gemessen werden, ob er die Arbeitslosigkeit reduziert habe. Das konnte er in keinem Fall einlösen; er selbst hat ja allenfalls Zugriff auf Stellen im Dienst des Bundes; und davon gibt es wohl immer noch eher zu viele als zu wenige.

Neil Kinnock, der frühere Führer der britischen Labour Party, eines extremen Liberalismus gewiß unverdächtig, hat einmal gesagt: "Der Staat ist nicht über uns, sondern der Boden unter unseren Füßen." Ich rede also nicht über "die da oben", die machen, was sie wollen, aber nichts voranbringen, sondern über diesen Boden, der ausgetrocknet ist und kein Wachstum mehr zulässt. Wir, die Bürgerinnen und Bürger müssen, und nur wir in unseren Köpfen können daran etwas ändern. Wir sind keine "Bevölkerung", die einer "Obrigkeit" murrend folgt, sondern die Herren und Herrinnen des Prozesses und müssen unsere Freiheit ausleben. Freilich, wie George Bernhard Shaw es ausdrückt, "Freiheit heißt, sich Verantwortung aufzuladen. Deshalb wird sie von vielen auch so gefürchtet!"

Also, was nun? Mehr Engagement in den politischen Prozessen! Ja, gewiss. Aber das genügt nicht, der Boden ist zu hart geworden. Aber, es gibt eine Alternative: die Zivilgesellschaft, die Summe der vielen Initiativen, Gruppen, Vereine, Verbände, Stiftungen usw., die von der Kreativität, dem Ideenreichtum, den Geschenken von Zeit und Geld, kurz vom freiwilligen bürgerschaftlichen Engagement leben. Nicht in jedem Verein wird die Welt bewegt, aber in jedem Verein wird soziales Kapital erzeugt, dort entsteht der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Dort versammeln sich vielfach Bürger, die in unserem Land etwas bewegen wollen. Deshalb, um im Bild zu bleiben: was wir dem Boden anvertrauen, womit wir ihn aber auch beleben wollen, müssen wir oben in unseren Köpfen und Herzen neu durchdenken.

Fast überall auf der Welt weiß man, dass eine aktive, starke Zivilgesellschaft die Voraussetzung schlechthin dafür bildet, dass die Bürger aufrecht und furchtlos zusammenhelfen und den Boden unter den Füßen wieder fruchtbar machen. So entsteht Bürgergesellschaft, die Gemeinschaft aktiver und verantwortungsbewusster Bürger, die ihre Ideen und Möglichkeiten einander anbieten. Mit diesen Ideen werden wir die Probleme unseres Landes lösen. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass auch wir unsere Gesellschaft wieder vom Kopf auf die Füße stellen.

Rupert Graf Strachwitz, Jahrgang 1947, studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an der Colgate University (USA) und der Ludwig-Maximilian-Universität, München. Seit 1989 ist er geschäftsführender Gesellschafter der Maecenata Management GmbH, München, seit 1997 auch Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universiät zu Berlin; Vorstand mehrerer Stiftungen, u.a. Kulturstiftung Haus Europa; Mitglied des Stiftungsrates u.a. der Fondazione Cariplo, Mailand, und der Montblanc Kulturstiftung, Hamburg.