Verantwortung gegenüber Flüchtlingen

Die EU hat ihre Seele verschachert

Ein Kind mit einer Karre in einem Flüchtlingslager in Kilis, an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei.
Die Lage in den Lagern im türkisch-syrischen Grenzgebiet, hier bei Kilis, spitzt sich für Tausende Flüchtlinge zu. © picture alliance / dpa / Uygar Onder Simsek/MOKU
Von Reinhard Baumgarten · 16.04.2016
In Syrien warten Tausende schutzbedürftige Menschen auf den Grenzübertritt. Sie sind vor dem IS geflohen, doch die Türkei nimmt sie nicht auf. Wer ist schuld? Die EU hat ihren ausdrücklichen Segen dafür erteilt, kommentiert Reinhard Baumgarten – in einem faustischen Pakt mit Erdogan, in dem viele den Buhmann sehen.
Nein, die Causa Böhmermann hat nichts damit zu tun, dass Ankara Warnschüsse auf Flüchtlinge abgeben lässt. Erdoğan fühlt sich durch den unterstellten Kotau von Kanzlerin Merkel nicht zusätzlich ermutigt, in seinem Land nach Belieben zu schalten und zu walten. Er braucht keine Ermutigung nicht. Er tut das schon lange.

Züge einer Massenhysterie

Die Aufregung um Jan Böhmermann hat in Deutschland Züge einer Massenhysterie angenommen. Der Aufreger sind dabei nicht die 25 Zeilen eines profilsüchtigen Moderators, der die gelungene Extra-3-Parodie auf Erdogan toppen wollte. Der Aufreger schlechthin ist, dass sich der türkische Präsident beleidigt fühlt als – in Böhmermanns Worten – Ziegenficker, Kinderschänder und dumme Sau tituliert zu werden.
Wie war das noch mit Artikel eins Grundgesetz? Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es da. Gewiss, Jan Böhmermann wollte mit seinem vor Rassismus und Vorurteilen strotzenden pubertären Werk in Fäkal- und Genitalsprache nur zeigen, was Satire nicht darf. Mögen deutsche Richter darüber befinden, was Satire darf.
Angela Merkel hat die bestmögliche Entscheidung getroffen und den Weg für eine gerichtliche Klärung freigemacht. Das ist ganz und gar gut so. Vielleicht dürfen wir bald in Gedichtform auf Böhmermannsche Weise über jeden Präsidenten, über missliebige Nachbarn, politische Gegner, Minderheiten und Konkurrenten am Arbeitsplatz herziehen. Ich hoffe aber, das bleibt uns erspart.

Nicht Böhmermann ist schuld, die EU hat den Segen gegeben

Deutschland dreht sich um Jan Böhmermann. Nein, die Türkei verweigert nicht mehr als 100.000 schutzbedürftigen Menschen den Grenzübertritt, wegen Jan Böhmermann. Nicht Jan Böhmermann, sondern die EU hat Ankara ihren ausdrücklichen Segen dafür erteilt, syrische Flüchtlinge auf syrischem Gebiet zu versorgen und sie nicht in die Türkei zu lassen.
Die Menschen darben mit dem Segen Brüssels in Nordsyrien zwischen Hammer und Amboss und müssen mit Drangsal und Tod klarkommen. Die EU hat im Umgang mit Flüchtlingen bislang weitgehend versagt. Es ist Deutschland und wenigen anderen EU-Ländern vorbehalten, Humanität, Solidarität und – wie war das noch? – ja, Nächstenliebe mit Schutzbedürftigen zu zeigen.

Erdogan ist nur die Projektionsfläche

Das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März ist ein faustischer Pakt, weil die EU ihre Seele verschachert hat – an nationale Egoismen und Kleinmut. Wut und Empörung richten sich aber gegen den mutmaßlichen Schleusenwärter Erdogan. Doch der ist in diesem Fall nur eine Projektionsfläche: Für das klägliche Versagen der EU als Staatengemeinschaft, für die Angst vor Fremden, vor DEM Islam, vor sozialem Abstieg, vor dem Unbekannten. Die Causa Böhmermann/Erdogan ist dafür ein wunderbarer Beleg.
Ja, Herr Erdogans Politik ist fragwürdig. Mehr denn je. Er ist gut im Austeilen, aber Widerspruch oder gar Kritik einstecken – das kann er nicht. Böhmermann hat ihm mittelbar neue Munition geliefert: Meinungsfreiheit, so wird in den Erdogan hörigen Medien hier jetzt gerne die Bundeskanzlerin zitiert – Meinungsfreiheit habe auch ihre Grenzen. Danke, Jan Böhmermann, wird sich Erdogan jetzt sagen und bei der Grenzziehung für Meinungsfreiheit gerne auf die Bundeskanzlerin verweisen.
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