Verächter der Massen

Von Kersten Knipp · 09.05.2008
Das Volk, der große Lümmel, macht meistens wenig richtig. Man muss ihm darum auf die Finger sehen und Aufsichtsprogramme gut begründen. Diese Begründungen wollte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset liefern. "Der Aufstand der Massen" heißt sein bekanntestes Werk, das ihn zwar als Verächter der Massen, keineswegs aber als Verächter der Demokratie darstellt.
Dem Philosophen will nicht wohl werden beim Anblick seines Landes. Nichts Universales, nichts Außergewöhnliches verkörpert es mehr. Der weltgeschichtliche Anspruch von einst ist gründlich dahin. Spätestens 1898, mit dem Verlust der letzten Kolonien, hat Spanien seine frühere Größe verloren, und wie viele Intellektuelle seiner Generation glaubt der am 9. Mai 1883 geborene Philosoph José Ortega y Gasset, vor dem Trümmerhaufen der Geschichte zu stehen. Verantwortlich dafür: der spanische Nationalcharakter.

"Wir sind ein Volksvolk, eine ackerbautreibende Rasse, bäuerliche Charaktere. Denn Bäuerlichkeit ist das charakteristische Merkmal von Gemeinschaften ohne Elite. Wenn man die Pyrenäen überschreitet und spanischen Boden betritt, hat man immer das Gefühl, zu einem Volk von Landleuten zu kommen. Wuchs, Gebärden, Gedanken und Gefühle, Tugenden und Laster sind typisch bäuerlich. In Sevilla, einer Stadt von 3000 Jahren, trifft man auf den Straßen fast lauter Ackerbauern."

Dennoch mochte Ortega von der Geschichte nicht lassen. Denn so sehr sie sich einerseits der Moderne entgegenstemmt, so sehr bietet sie sich doch auch an, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Und diese Gegenwart sah bedrückend aus: 1936 zwang General Franco der spanischen Republik einen Krieg auf. Und auch anderswo sahen sich die Menschen finsteren politischen Heilslehren, Nationalsozialismus und Kommunismus, gegenüber. Der schwierigen Situation, empfahl Ortega y Gasset in einer Vorlesung aus dem Jahr 1932, könne man nur durch die Besinnung auf die Geschichte entgegentreten.

"Europa ist alt. Auf die Ideale der jungen Menschen kann der Kontinent nicht hoffen. Seine Stärke liegt gerade darin, alt zu sein, ein großes Gedächtnis, eine lange Geschichte zu haben. Seine Probleme sind gewaltig, und sie erfordern komplexe Lösungen. Die kann nur die Geschichte geben, denn ansonsten gäbe es eine unüberbrückbare Spannung zwischen diesen Problemen und der jugendlichen, geschichtslosen Einfalt, mit der Europa sie lösen will."

In seinem bis heute bekanntesten Werk, dem 1930 erschienenen Essay "Aufstand der Massen", zeichnete Ortega ein äußerst pessimistisches Bild moderner Massengesellschaften. Hätten sich Demokratie und Gleichheit einmal durchgesetzt, gälten sie den Menschen als selbstverständliche Errungenschaften, um die man nicht mehr kämpfen müsse. Die Folge sei eine zunehmende Apathie und Erschlaffung.

"Heute erleben wir den Triumph einer Überdemokratie, in der die Masse direkt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesen durch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wünsche und Geschmacksrichtungen aufzwingt. Die Masse glaubt, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten. Ich bezweifle, dass es noch eine geschichtliche Epoche gegeben hat, in der die Masse so umweglos reagierte wie in unserer Zeit. Darum spreche ich von einer Hyperdemokratie."

Was ließe sich dieser Hyperdemokratie entgegensetzen? Auf jeden Fall nicht eine totalitäre Politik, wie ihr einige Jahre später auch Spanien zum Opfer fiel. Vor dem Bürgerkrieg floh Ortega y Gasset ins Ausland. In das von Franco beherrschte Spanien kehrte er erst 1945 wieder zurück. Ortega y Gasset war zu nüchtern, um der politischen Wirklichkeit heilsgeschichtliche Vorstellungen gegenüber zu stellen. Wenn es auf etwas ankäme, meinte er, dann vor allem auf eines: aus alten Fehlern endlich einmal klug zu werden.

"Europa kann aus seiner Geschichte keine Verhaltensnormen schöpfen. Die Geschichte bestimmt die Zukunft nicht. Wohl aber lehrt sie, was man nicht tun darf. Sie dient uns dazu, das zu vermeiden, was war. Denn die Geschichte will immer zurückkehren, und wenn wir sie nicht kraft unserer Erinnerung beherrschen, kehrt sie sich immer gegen uns und wird uns letztlich erdrücken."

Spaniens Aufbruch aus der Isolation erlebte Ortega y Gasset nicht mehr. In seinen letzten Jahren machten die politischen Verhältnisse die Publikation seiner Werke ausgesprochen schwierig. Gegen Ende seines Lebens war er über das Schicksal seines Landes kaum glücklicher als am Anfang. Der große Verächter der Massengesellschaft erlag am 18. Oktober 1955 einem Krebsleiden.