Vera Buck: "Runa"

Dunkles Geheimnis im Kopf

Das Skalpell eines Chirurgen
In Vera Bucks "Runa" sind Ärzte so besessen von möglichen Erfolgserlebnissen, dass sie ihre Patienten aus den Armenvierteln sogar dafür töten. © dpa/picture alliance/Oliver Berg
Von Susanne Billig · 29.08.2015
Vera Buck schildert in "Runa" die Anfänge der Neurochirurgie, die grausamer nicht sein konnten. Sie spinnt einen Krimi um die Ende des 19. Jahrhunderts berühmteste Nervenheilanstalt Europas. In der Pariser Salpêtrière wetteiferten Ärzte so sehr um wissenschaftliche Anerkennung, dass sie buchstäblich über Leichen gingen.
Eigentlich seien Kälber die besten Objekte für seine chirurgischen Experimente, erklärte 1891 der schwedische Arzt Carl Janson. Doch die Tiere seien teuer und schwer zu beschaffen, weshalb er, mit gütiger Erlaubnis seines Oberarztes, die medizinische Arbeit zunächst mit Findelkindern aufgenommen habe. Wie einen Paukenschlag stellt die junge Autorin Vera Buck dieses Zitat ihrem opulenten Roman "Runa" voran und stellt gleich klar, was ihr Publikum auf den folgenden 600 Seiten zu erwarten hat: ärztliche Übergriffe, geschundene Patienten und organisierte Fühllosigkeit - eingebettet in eine spannende Krimihandlung.
Um die Jahrhundertwende kommt der junge Medizinstudent Jori aus der Schweiz an die damals berühmteste Nervenheilanstalt Europas, die Salpêtrière in Paris. Für seine Doktorarbeit möchte er - um später seine in der Psychiatrie leidende Geliebte heilen zu können - den ersten psychochirurgischen Eingriff am Gehirn eines lebenden Menschen vornehmen, dem Mädchen Runa. Der sensible junge Mann taucht ein in die skurrile Binnenwelt des gigantischen Siechenhauses, das in seiner Blütezeit bis zu 8000 Patientinnen und Patienten beherbergte. Jori kommt auf Tuchfühlung mit dem erbitterten Konkurrenzkampf unter den Ärzten, die darum wetteifern, als erste neue Diagnosen und Therapien anzuwenden, und er lernt das "Patientenmaterial" seiner Abteilung kennen: hunderte von gefesselten, demoralisierten, in Vorlesungen öffentlich zur Schau gestellten und mit furchtbarsten Experimenten traktierten Frauen aus den Armenvierteln von Paris, denen die Modediagnose jener Zeit zuteil wird: Sie sind, nach dem Willen der Ärzte, ausnahmslos "Hysterikerinnen".
Versuche im Verborgenen
In dieses aufwendig recherchierte und anschaulich ausgemalte Setting platziert die Autorin ihre Krimigeschichte um die geheimnisvolle Runa, kryptische Zeichen an den Wänden, gestohlene Kinder, die in den Katakomben der Stadt umherirren und medizinische Experimente, deren Grausamkeit die Grenzen selbst jener Zeit sprengt, so dass eine verschworene Gruppe von Ärzten den Versuchen im Verborgenen nachgeht und die Leichen hernach verschwinden lassen muss.
Vera Buck erzählt die Handlung aus verschiedenen Perspektiven und spätestens, wenn noch im letzten Drittel des Buches neue Personen mit neuem Insiderwissen und neuen subjektiven Perspektiven eingeführt werden, bekommt man das Gefühl, etwas weniger an Umfang und Krimiambition wäre mehr gewesen, zumal der Text sprachlich streckenweise leicht bieder gerät. Das tut dem großen Pluspunkt des Romans jedoch keinen Abbruch: dem präzisen Einblick in die Frühzeit der Neurochirurgie, den die Autorin gewährt. Die Ausläufer der Brutalitäten, die Vera Buck so schonungslos schildert, reichten nach ihrem schrecklichen Höhepunkt unter der Nazi-Herrschaft immerhin bis weit in die 1970er Jahre, als die Psychiatrie sich endlich einer bürgerrechtlichen Grundsatzdiskussion stellen musste, die bis heute andauert. Die Anfänge dieses Grauens schildert Vera Buck detailreich und ohne Übertreibung - das macht ihr Buch trotz seiner Mängel so packend.

Vera Buck: Runa
Limes Verlag, München 2015
608 Seiten, 19,99 Euro

Mehr zum Thema