Vagabundieren muss irgendwann scheitern
In Ignacio Martínez de Pisóns Roman erinnert sich Ich-Erzähler Felipe an seine Jugendjahre, kurz vor Ende der Franco-Diktatur. Der 15-Jährige reist mit seinem kleinkriminellen Vater und ihrem Auto, das sie "Göttin" nennen, durch Spanien. In einem warmen Ton erzählt der spanische Autor von einer schwierigen Beziehung zwischen Vater und Sohn.
Es gibt Romane, die schreien regelrecht nach einer Verfilmung: Ihre Episoden sind Szenen, der Text richtet sich ganz aufs Sinnliche, er evoziert Visuelles, schon beim Lesen entstehen die Bilder. "Mein Vater, die Göttin und ich" ist ein solcher Roman, und dass er, seit seinem Erscheinen 1996, in Spanien gleich zweimal verfilmt wurde, belegt seine Attraktivität für den Film.
Der Ich-Erzähler blickt zurück in seine Jugend als 15-Jähriger: Es ist das Jahr 1974, in Spanien wartet man auf den Tod des Generals Franco, dessen Krankenhausaufenthalte sich häufen. Felipe, der Ich-Erzähler, zieht mit seinem Vater von Ort zu Ort, vorzugsweise sind es Urlaubsorte am Mittelmeer, in denen man außerhalb der Saison billig Apartments oder Wohnungen mieten kann. Es sind Geisterstädte, beherrscht von herabgelassenen Jalousien und bewohnt von den wenigen Einheimischen, die es in solchen Orten gibt.
Das rastlose Leben von Vater und Sohn hat konkrete Gründe, die Felipe nach und nach enthüllt. Sein Vater ist ein verkrachter Mediziner, der wegen einer Betrugsaffäre (zugunsten seiner Patienten, die sich wegen verunreinigter Instrumente Infektionen zugezogen hatten und denen er in seinen Gutachten etwas übertriebene Folgeschäden bescheinigte, um ihnen auf diese Weise höhere Entschädigungen zukommen zu lassen) seine Approbation verloren hat. Seine Frau, Felipes Mutter, war eine der Geschädigten in jener Affäre, sie ist kurz nach der Geburt des Sohnes gestorben, makabrerweise an genau jener Krankheit, die Felipes Vater ihr seinerzeit diagnostiziert hatte. Der Betrugsskandal, aber auch die Ehe des Vaters führen zum Bruch zwischen der wohlhabenden Familie des Vaters und diesem selbst.
Felipes Vater schlägt sich mit allerlei windigen Geschäften und Unternehmungen durch. Seine Herkunft aus "gutem Hause" und seine Vergangenheit als Mediziner verleihen ihm, der stets sehr korrekt gekleidet ist, ein respektables Äußeres. Hinzu kommt das imposante Auto, ein schwarzer Citroen DS 19, "die Göttin" genannt, das den äußeren Schein enorm poliert, Vertrauen erweckt und nicht zuletzt auf die wechselnden Freundinnen des Vaters Eindruck macht.
"Die Göttin" ist aber auch das letzte symbolhafte Objekt für den Begriff, um den der Roman letztlich kreist: Würde. Bei allem, was Felipes Vater unternimmt, steht im Vordergrund seine Annahme oder Illusion, dass er dabei seine Würde nicht verliert: der Handel mit nicht verderblichen Konserven, das Betreiben illegaler Telefonzellen, Fußballwetten (mit geborgtem Geld), ein Versuch als Agent für die singende Freundin, die Einfuhr amerikanischer Autos.
Es sind meist kurzlebige Unternehmungen, da sie in der Regel auf nicht ganz legaler Grundlage fußen, steht bei ihrem Scheitern der nächste Umzug an. Und das nächste "Projekt", das mit großer Energie und vielen Illusionen angegangen wird. Diese Illusionen des Vaters richten sich auch auf Felipe. Vom Leben in einer großen Stadt, von einer guten Schulbildung und anderen Perspektiven für seinen Sohn träumt und schwadroniert der Vater in manchen Momenten, um sich dann doch wenig um seinen Sohn zu kümmern.
Felipes rückblickende Ich-Erzählung zeigt einen 15-Jährigen, der dieses Leben an der Seite seines Vaters nie wirklich in Frage stellt. Er genießt viele Freiheiten, unter anderem legt er weitgehend selbst fest, ob er die Schule besucht oder nicht, hängt seinen Gedanken oder Träumen nach, sieht fern und verfolgt zum Beispiel den Entführungsfall der Zeitungsmagnatentochter Patricia Hearst, verliebt sich in ein amerikanisches Mädchen oder schildert Episoden mit Schulfreunden.
Aber er entwickelt auch viel Distanz zu seinem Vater, letztlich rückt auf diese Weise auch für ihn die Frage nach der eigenen Würde in sein Leben. Denn er spürt, dass dieses Vagabundieren, das immer mehr zu einer Flucht wird, keine Zukunft hat und irgendwann in ein Scheitern führen muss.
Als sich dieses Scheitern schließlich ereignet und der Vater für einige Wochen ins Gefängnis muss, wird Felipe im Haus seines Onkels aufgenommen. Ein wohlhabendes, aber ödes bürgerliches Leben umfängt ihn, man geht korrekt mit ihm um, aber der Makel, Bestandteil der "Familienschande" zu sein, bleibt doch immer anwesend. Aus dem Dasein voller Freiheiten wird ganz plötzlich ein Leben voller Zielstrebigkeit, in dem die oberste Maßgabe ist, "es zu etwas zu bringen".
Da die kleine Gaunerei des Vaters keine große Straftat war, wird er nach einigen Wochen aus dem Gefängnis entlassen. Vieles hat sich verändert: Felipe weiß oder ahnt doch, dass in erster Linie er selbst für sein Leben verantwortlich ist. Aber auch sein Vater hat sich gewandelt. Sein Begriff von Würde und Selbstachtung orientiert sich nicht mehr an einer verklärten Vergangenheit, sondern an der aktuellen Wirklichkeit.
Der Gefängnisaufenthalt hat ihn gebrochen, aber ihm auch geholfen, seine Lage als in vielerlei Hinsicht Gescheiterter zu akzeptieren. Er verkauft "die Göttin", zieht mit Felipe in eine Art Schuppen und ist sich für "niedere" Arbeiten wie Putzen, die er sonst strikt von sich gewiesen hatte, nicht mehr zu schade.
Aber das Zerbrechen der Illusionen nagt an ihm, Felipe sieht Anzeichen dafür, dass sein Vater sich umbringen will. In einem dramatischen Finale, in dem die amtliche Mitteilung, dass der Vater einen erheblichen Teil des Vermögens seiner soeben verstorbenen begüterten Mutter erbt, beinahe zu spät kommt, inszeniert der Autor das Happy End des Romans.
Ignacio Martínez de Pisón erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Adoleszenz, und er erzählt sie sehr überzeugend. Neben der durchweg spannenden Geschichte ist es vor allem der Ton, der die "Seele" dieses Romans ausmacht. Obwohl immer klar ist, dass sich hier ein erwachsener Ich-Erzähler an seine Jugend erinnert, bleibt der Text doch weitgehend dem Tonfall eines 15-Jährigen treu.
Alle Elemente, die, die mit den Jahren gewonnene, Distanz markieren, sind überaus sparsam eingefügt. Es ist eine völlig unsentimental erzählte Geschichte, auch dies macht ihre Glaubwürdigkeit aus und überlässt das "Mitfühlen" jener schwebenden Mischung aus Vater-Sohn-Liebe und Distanz dem Leser.
Ignacio Martínez de Pisón: Mein Vater, die Göttin und ich
Roman. Aus dem Spanischen von Sybille Martin
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
290 Seiten, 19,95 Euro
Der Ich-Erzähler blickt zurück in seine Jugend als 15-Jähriger: Es ist das Jahr 1974, in Spanien wartet man auf den Tod des Generals Franco, dessen Krankenhausaufenthalte sich häufen. Felipe, der Ich-Erzähler, zieht mit seinem Vater von Ort zu Ort, vorzugsweise sind es Urlaubsorte am Mittelmeer, in denen man außerhalb der Saison billig Apartments oder Wohnungen mieten kann. Es sind Geisterstädte, beherrscht von herabgelassenen Jalousien und bewohnt von den wenigen Einheimischen, die es in solchen Orten gibt.
Das rastlose Leben von Vater und Sohn hat konkrete Gründe, die Felipe nach und nach enthüllt. Sein Vater ist ein verkrachter Mediziner, der wegen einer Betrugsaffäre (zugunsten seiner Patienten, die sich wegen verunreinigter Instrumente Infektionen zugezogen hatten und denen er in seinen Gutachten etwas übertriebene Folgeschäden bescheinigte, um ihnen auf diese Weise höhere Entschädigungen zukommen zu lassen) seine Approbation verloren hat. Seine Frau, Felipes Mutter, war eine der Geschädigten in jener Affäre, sie ist kurz nach der Geburt des Sohnes gestorben, makabrerweise an genau jener Krankheit, die Felipes Vater ihr seinerzeit diagnostiziert hatte. Der Betrugsskandal, aber auch die Ehe des Vaters führen zum Bruch zwischen der wohlhabenden Familie des Vaters und diesem selbst.
Felipes Vater schlägt sich mit allerlei windigen Geschäften und Unternehmungen durch. Seine Herkunft aus "gutem Hause" und seine Vergangenheit als Mediziner verleihen ihm, der stets sehr korrekt gekleidet ist, ein respektables Äußeres. Hinzu kommt das imposante Auto, ein schwarzer Citroen DS 19, "die Göttin" genannt, das den äußeren Schein enorm poliert, Vertrauen erweckt und nicht zuletzt auf die wechselnden Freundinnen des Vaters Eindruck macht.
"Die Göttin" ist aber auch das letzte symbolhafte Objekt für den Begriff, um den der Roman letztlich kreist: Würde. Bei allem, was Felipes Vater unternimmt, steht im Vordergrund seine Annahme oder Illusion, dass er dabei seine Würde nicht verliert: der Handel mit nicht verderblichen Konserven, das Betreiben illegaler Telefonzellen, Fußballwetten (mit geborgtem Geld), ein Versuch als Agent für die singende Freundin, die Einfuhr amerikanischer Autos.
Es sind meist kurzlebige Unternehmungen, da sie in der Regel auf nicht ganz legaler Grundlage fußen, steht bei ihrem Scheitern der nächste Umzug an. Und das nächste "Projekt", das mit großer Energie und vielen Illusionen angegangen wird. Diese Illusionen des Vaters richten sich auch auf Felipe. Vom Leben in einer großen Stadt, von einer guten Schulbildung und anderen Perspektiven für seinen Sohn träumt und schwadroniert der Vater in manchen Momenten, um sich dann doch wenig um seinen Sohn zu kümmern.
Felipes rückblickende Ich-Erzählung zeigt einen 15-Jährigen, der dieses Leben an der Seite seines Vaters nie wirklich in Frage stellt. Er genießt viele Freiheiten, unter anderem legt er weitgehend selbst fest, ob er die Schule besucht oder nicht, hängt seinen Gedanken oder Träumen nach, sieht fern und verfolgt zum Beispiel den Entführungsfall der Zeitungsmagnatentochter Patricia Hearst, verliebt sich in ein amerikanisches Mädchen oder schildert Episoden mit Schulfreunden.
Aber er entwickelt auch viel Distanz zu seinem Vater, letztlich rückt auf diese Weise auch für ihn die Frage nach der eigenen Würde in sein Leben. Denn er spürt, dass dieses Vagabundieren, das immer mehr zu einer Flucht wird, keine Zukunft hat und irgendwann in ein Scheitern führen muss.
Als sich dieses Scheitern schließlich ereignet und der Vater für einige Wochen ins Gefängnis muss, wird Felipe im Haus seines Onkels aufgenommen. Ein wohlhabendes, aber ödes bürgerliches Leben umfängt ihn, man geht korrekt mit ihm um, aber der Makel, Bestandteil der "Familienschande" zu sein, bleibt doch immer anwesend. Aus dem Dasein voller Freiheiten wird ganz plötzlich ein Leben voller Zielstrebigkeit, in dem die oberste Maßgabe ist, "es zu etwas zu bringen".
Da die kleine Gaunerei des Vaters keine große Straftat war, wird er nach einigen Wochen aus dem Gefängnis entlassen. Vieles hat sich verändert: Felipe weiß oder ahnt doch, dass in erster Linie er selbst für sein Leben verantwortlich ist. Aber auch sein Vater hat sich gewandelt. Sein Begriff von Würde und Selbstachtung orientiert sich nicht mehr an einer verklärten Vergangenheit, sondern an der aktuellen Wirklichkeit.
Der Gefängnisaufenthalt hat ihn gebrochen, aber ihm auch geholfen, seine Lage als in vielerlei Hinsicht Gescheiterter zu akzeptieren. Er verkauft "die Göttin", zieht mit Felipe in eine Art Schuppen und ist sich für "niedere" Arbeiten wie Putzen, die er sonst strikt von sich gewiesen hatte, nicht mehr zu schade.
Aber das Zerbrechen der Illusionen nagt an ihm, Felipe sieht Anzeichen dafür, dass sein Vater sich umbringen will. In einem dramatischen Finale, in dem die amtliche Mitteilung, dass der Vater einen erheblichen Teil des Vermögens seiner soeben verstorbenen begüterten Mutter erbt, beinahe zu spät kommt, inszeniert der Autor das Happy End des Romans.
Ignacio Martínez de Pisón erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Adoleszenz, und er erzählt sie sehr überzeugend. Neben der durchweg spannenden Geschichte ist es vor allem der Ton, der die "Seele" dieses Romans ausmacht. Obwohl immer klar ist, dass sich hier ein erwachsener Ich-Erzähler an seine Jugend erinnert, bleibt der Text doch weitgehend dem Tonfall eines 15-Jährigen treu.
Alle Elemente, die, die mit den Jahren gewonnene, Distanz markieren, sind überaus sparsam eingefügt. Es ist eine völlig unsentimental erzählte Geschichte, auch dies macht ihre Glaubwürdigkeit aus und überlässt das "Mitfühlen" jener schwebenden Mischung aus Vater-Sohn-Liebe und Distanz dem Leser.
Ignacio Martínez de Pisón: Mein Vater, die Göttin und ich
Roman. Aus dem Spanischen von Sybille Martin
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
290 Seiten, 19,95 Euro