Usbekistan

Zwischen Diktatur und Islamismus

Die Altstadt von Buchara.
Die Altstadt von Buchara. © Deutschlandradio / Werner Bloch
Von Werner Bloch · 07.11.2016
Im September 2016 starb der usbekische Präsident Islom Karimov, der das Land seit 1991 diktatorisch regiert hatte. Jetzt befürchten viele, der Islamismus könnte sich ausbreiten. Schließlich operiert bereits der IS in dem zentralasiatischen Land.
Es ist ein Staat, der sich gern als mittelalterliches Märchenland präsentiert, mit legendären Städten wie Buchara und Samarkand, das Herzstück der alten Seidenstraße.
Zitator:
"Überall in der Welt strahlt das Licht vom Himmel zur Erde.
Nur in Buchara strahlt es von der Erde zum Himmel."
Die Mauern in Buchara sind farbig verziert, überall glänzende grüne Kacheln. Türkisblau leuchten die Kuppeln der berühmten Moscheen und Medresen. Ein alter Mann spielt Lieder auf einer Flöte, der Ton steigt schwebend an den Wänden der islamischen Prachtbauten empor. Buchara, Hochburg des zentralasiatischen Islams – eine Stadt, deren Spiritualität seit Jahrhunderten gerühmt wird.
Doch wer näher tritt und in die Moscheen, die alten Minarette und die Koranschulen hineinsieht, ist überrascht: von Religion keine Spur! Niemand kommt mehr hierher, um zu beten oder um etwas über den Islam zu lernen. Stattdessen Händler, Touristen, lärmender Basar. Der Kommerz gibt den Ton an.
Teppichhändler feilschen um die Wette, bunte seidene Tücher und Stoffe werden angeboten. Man stolpert über blau bemalte Weihnachtskugeln, geschnitzte Votivtafeln mit den Emblemen von Manchester United und FC Bayern München. An den Wänden flattern sogar Porträtzeichnungen auf gelbem Papier von Josef Stalin und Adolf Hitler – dort wo einmal der Koran gelehrt wurde.

Entfremdete Sakralbauten

Mit dem Islam hat das alles nichts zu tun. Bucharas großartige Sakralbauten – sie sind entkernt, entfremdet, reine Hülle für Touristen und Marktgeschrei in pittoresken Wänden.
Der Grund für diese Entweihung ist politischer Natur. Bereits die atheistischen Sowjets hatten wenig Sinn für den Islam. Sie misstrauten der Religion. Der KGB überwachte alle Aktivitäten in Usbekistan und anderen sowjetischen Teilrepubliken.
Als Usbekistan im September 1991 unabhängig wurde, setzte Präsident Karimov die Politik der Überwachung und Unterdrückung konsequent fort. Er fürchtete den Islam als Sammelbecken der Opposition.
Das hat sich bis heute nicht geändert, auch nach dem Tod von Karimov vor drei Monaten. Der bekannteste Künstler des Landes und einer der härtesten Kritiker des Systems, Vyacheslav Akhunov, sieht das so:
"In Usbekistan vertraut niemand niemandem mehr. Und deshalb richten viele den Blick auf die Moschee. Nach dem Untergang der Sowjetunion wollten die Leute beweisen, dass sie religiös sind. Das hatte demonstrativen Charakter. Nicht nur fünf mal am Tag beten, sondern auch zeigen, dass sie zum Islam gehörten. Doch die Regierung betreibt eine Politik der Verbote. Der Zutritt zur Moschee gilt als oppositionelle Geste des Widerstands gegen den Präsidenten.
Ich wohne in einem Haus, das nur 50 Meter von einer Moschee entfernt steht. Wenn ich mich aus dem Fenster beuge, sehe ich, dass beim Freitagsgebet Polizisten und Sicherheitsleute vor der Moschee Wache halten und Kindern den Eintritt verwehren. Schon den Kindern wird beigebracht, dass sie keine Moscheen betreten dürfen, sonst wirft man sie von der Schule und bestraft ihre Eltern."

Furcht vor der Regierung und den Islamisten

Vyacheslav Akhunov ist einer der wenigen, die es überhaupt noch wagen, die Regierung zu kritisieren. Eine Opposition gibt es nicht in Usbekistan. Oppositionelle wurden vertrieben, ins Gefängnis gesteckt oder ganz ausgeschaltet.
Wenn Akhunov heranstapft, sieht man ihm schon von Ferne seine Entschlossenheit an: blaues Jeanshemd und Jeansweste, weiße, zerzauste Haare, Bart und ein herausfordernder Blick. Der Mann ähnelt eher einem Trucker als einem international renommierten Künstler.
"Ich habe 2004 in Taschkent ein Zentrum für zeitgenössische Kunst aufgemacht. Aber es wurde nach zwei Jahren geschlossen. Ich hatte mehrere Schüler, aber eines Tages waren sie verschwunden. Eines Abends, als es schon dunkel war, kam eine junge Frau zu mir und weinte. Sie sagte, sie seien alle bedroht worden. Man habe ihr angedroht, sie werde ihren Job verlieren und niemals mehr Arbeit finden."
Der usbekische Künstler und Regimekritiker Vyacheslav Akhunov
Der usbekische Künstler und Regimekritiker Vyacheslav Akhunov© Werner Bloch
Akhunov sagt, er fürchte beides: die Regierung und die Islamisten. Zwischen fünf und zehn Prozent der Usbeken gelten als Anhänger des Islamismus. 88 Prozent der Usbeken sind Moslems. Aber ihr Islam ist keine von Hasspredigten und Gewalt geprägte Religion. Der traditionelle Islam in Usbekistan ist ausgesprochen friedfertig.
Das liegt daran, dass die Anhänger Mohammeds bei ihrem Vordringen nach Asien auf andere Religionen stießen, die durchaus milder Natur waren: den Buddhismus, den Schamanismus und den in Persien verbreiteten Zoroastrismus.

Weit verbreiteter Sufismus

Besonders verbreitet in Zentralasien ist der Sufismus. Eine stille, spirituelle, meditative, nach innen gekehrte Ausprägung des Islam. Sufis werden oft als Heilige verehrt, so will es der sogenannte "Volksislam". Er ist lebendiger Alltag und wird von den Familien zelebriert – zum Beispiel am Grab des Bechaudin Naqshbandi, rund 20 Autominuten entfernt von Buchara. Elegant gekleidete Frauen in roten und grünen Gewändern betreten das prachtvolle Mausoleum des Bechaudin Naqshbandi, eines der wichtigsten Religionsstifter Usbekistans.
Die Stimmung ist ausgelassen, es wird gelacht und gescherzt wie bei einer Klassenfahrt. Junge Mädchen, Kinder, Liebespaare genießen die Herbstsonne, die angenehmste Jahreszeit in Usbekistan. Im Inneren des Heiligtums: Steinmauern, auf denen Menschen sitzen und miteinander schwätzen, während die Kleinkinder auf dem Rasen spielen. Es geht trotz der festlichen Kleidung ganz und gar unzeremoniös zu. Der Sufikenner Georgij Agrinskij aus Taschkent:
"Und hier können wir mal sehen einige riesengroße Reste von einem sehr alten Maulbeerbaum. Es gibt so einen Aberglauben. Denn besonders für Mütterchen es ist ja wichtig, wenn die Damen Rückenschmerzen haben, und wenn sie dreimal unter dem Baum durchgehen können, wird ihr Rücken weniger wehtun."
Ein Heiliger soll hier gewirkt haben und auch begraben sein, Begründer einer der beiden wichtigsten Sufiorden in Usbekistan.
Ein alter Mann setzt sich zu zwei Jungen auf eine Bank, den Blick auf den riesigen Friedhof gerichtet, der sich hinter dem Schrein erstreckt. Der Alte mit dem braunen Stoffkäppi erzählt ihnen die Geschichte des Ortes. Er wünscht ihnen Glück und segnet sie mit einem Gebet. Dafür bekommt er eine kleine Spende.
"Beten können hier alle. Nicht nur Muslime kommen hier rein. Und vor allem: Man muss arbeiten, ähnlich wie Benediktiner, ora et labora, unsere usbekischen Benediktiner."
Pilger am Schrein des Sufis Naqshbandi.
Pilger am Schrein des Sufis Naqshbandi.© Deutschlandradio / Werner Bloch

Islamismus wird mit Terrorismus gleichgesetzt

Wie aus einer anderen Welt wirkt dagegen diese Moschee in Buchara. Am Eingang treffe ich einen etwa 50-jährigen Mann, der sich als Mullah vorstellt, als islamischer Religionsgelehrter. Den Islam habe er erst spät in seinem Leben entdeckt, sagt er, nach der Unabhängigkeit des Landes.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte zu einer ideologischen Leere geführt, Religionslehrer waren nicht ausgebildet worden. Prediger aus dem Ausland kamen, vor allem aus Saudi-Arabien. Die Idee des Jihad wurde importiert. Ein "ausländischer" Islam geriet in Konflikt mit zentralasiatischen Traditionen.
Darauf reagierte der säkulare Staat: Alle religiösen Aktivitäten stehen seitdem unter seiner Kontrolle. Polizei und Geheimdienst sind allgegenwärtig. Deshalb wirkt der Mullah verschüchtert, manchmal schaut er sich um, als fürchte er, während des Gesprächs entdeckt zu werden.
"Früher, zur Sowjetzeit, war ich Lehrer für Geografie. Ich habe in einer Schule unterrichtet. Ich war damals noch nicht religiös, den Islam habe erst viel später entdeckt. Damals gab es nur drei funktionierende Moscheen in Buchara. Und es war kompliziert und gefährlich, in die Moschee zu geben. Heute ist das ganz anders geworden, eine Selbstverständlichkeit. Ich habe den Koran studiert und viele Bücher darüber gelesen, im Selbststudium. Ich war dann so überzeugt davon, dass ich 2005 zur Hadj aufgebrochen bin, der Pilgerreise nach Mekka. In unsere Moschee kommen jetzt immer mehr Leute: jeden Mittag 200 Gläubige, freitags sind es sogar 2000."
Was er denn von den Islamisten halte, deren Zahl ständig wachse, frage ich den Mullah. Und ob er vielleicht einige Islamisten persönlich kenne? Meinen Übersetzer befällt Panik, die Angst ist ihm ins Gesicht geschrieben, er will das Gespräch am liebsten abbrechen – denn Islamismus wird in Usbekistan mit Terrorismus gleichgesetzt. Und schon die Erwähnung des Wortes ist eine Straftat.
Doch der Mullah schüttelt den Kopf. Vom Islamismus halte er gar nichts, murmelt er. Der habe mit dem wahren Islam nichts zu tun. Es kämen auch keine Islamisten in seine Moschee, betont er. Dann entfernt er sich rasch Richtung Altstadt. Seinen Name will er nicht nennen.
Ein Mullah in der usbekistischen Stadt Buchara
Ein Mullah in der usbekistischen Stadt Buchara© Werner Bloch
Was immer die usbekische Staatsmacht versucht: Der Islamismus lässt sich nicht totschweigen. Und der Diskurs wird zunehmend radikaler – auch wenn einige Saudis nach Anschlägen in Taschkent und Buchara ausgewiesen wurden.
Das "wahhabitische Gespenst" geht um. Es spukt vor allem im Fergana-Tal, dort, wo 2005 das Massaker von Andischan stattfand mit mehreren hundert Toten. Es wurde nicht nur durch seine Brutalität zum Wendepunkt in der Geschichte Usbekistans, sondern auch, weil Islamisten den Widerstand gegen die Regierung in Taschkent mit angehetzt und befeuert hatten. Staatspräsident Karimow behauptete damals, er habe alles im Griff.
"Und die Ereignisse von Andischan - die passierten nicht spontan. Heute haben wir bereits genügend Daten, die aussagen, dass, um diese Aktion vorzubereiten, mindestens drei bis sechs Monate notwendig waren. Sie haben darauf gehofft, dass sowohl die lokale Macht als auch die zentrale Macht keine Standhaftigkeit zeigen würden; das heißt, alles womit die Administration beauftragt wurde, dies würde, sozusagen, nicht erfüllt werden, so wie es im benachbarten Kirgisien der Fall war. Das ist ein ernsthafter Fall zum Nachdenken."

Theaterdirektor wurde ermordet

Der Staat reagierte mit noch größerer Repression. Insgesamt 8000 Menschen sitzen heute in den usbekischen Gefängnissen ein, viele von ihnen aus politischen und religiösen Gründen. Viele werden gefoltert. Laut Amnesty International betreibt die Staatssicherheit sogar ein Gefängnis am Aralsee, wo Insassen mit kochendem Wasser übergossen und getötet werden. Der Feind für Islom Karimov: die islamistische Terrorgruppe Hizb ut-Tahrir.
"Ihr erstes Ziel ist der Umsturz - die existierende Ordnung umzustürzen, die lokale zu beseitigen und ein sogenanntes Kalifat zu gründen, welches alle Muslime vereinen soll, gegen den säkularen Staat. Das ist ihr Ziel."
Tatsächlich kämpft die islamistische Hizb ut-Tahrir für ein Kalifat, das mehrere Länder umfassen soll. Sie arbeitet seit den 90er-Jahren an einer "Talibanisierung" Usbekistans. Ihre Mitgliederzahl wird auf 10.000 geschätzt. Es gibt Vermutungen, dass die Gruppe über exzellente Verbindung zur Drogenmafia verfügt.
Die Islamisten führen aber auch gezielte Tötungen aus. Die richten sich unter anderem gegen die Kultur. Das hat das renommierte Ilkhom-Theater in Taschkent erfahren müssen, das einzige international bekannte Theater des Landes. Im September 2007 wurde der Initiator und langjährige Direktor Mark Weil vor seinem Haus ermordet – angeblich von einem Islamisten. Boris Gafurov, der jetzige Theaterleiter:
"Der ehemalige künstlerische Leiter und Gründer unseres Theaters, Mark Weil, wurde von einem Islamisten erstochen. Man fand ihn neben seiner Wohnungstür, er kam gerade von einer Probe nach Hause.Der Mörder wurde lange nicht gefunden, und über das Motiv war man sich im Unklaren. Am Ende standen Leute vor Gericht, die zu einer radikalen islamistischen Gruppe gehörten. Hauptmotiv war für sie offenbar ein Stück, das Mark Weil inszeniert hatte: 'Nachahmungen des Korans' – ein Werk von Puschkin. Das Stück steht immer noch auf dem Spielplan unseres Theaters."
Ausgerechnet Puschkin, ausgerechnet "Nachahmungen des Korans", ein poetisches Buch über den Koran. Der Attentäter wird die Texte nie gelesen oder verstanden haben.
Neben der Hizb-al Tahrir gibt es eine weitere Terrororganisation: die IBU oder Islamische Bewegung Usbekistan. Sie wurde 1998 in Afghanistan gegründet und von den Taliban geduldet. Mullah Omar, der Führer der Taliban, ernannte 2001 den Kommandeur und Mitbegründer der IBU, Jumma Namangani, zum Führer der Islamischen Bewegung Usbekistan, die zum großen Teil aus Ausländern besteht. Jumma Namangani stieg zum persönlichen Todfeind von Präsident Karimov auf.

Auch der IS ist in Usbekistan aktiv

Die IBU verzeichnete durchaus Erfolge. Im Sommer 2000 drangen Kämpfer bis 60 Kilometer vor Taschkent vor. Sie verübten dreiste Überfälle im Fergana-Tal. Gleichzeitig operierten sie in Tadschikistan und Kirgistan. Dann kam der "Krieg gegen den Terror".
9/11 veränderte die Situation in Usbekistan dramatisch. Die USA brauchten Usbekistan als Verbündeten und zuverlässigen Partner. Karimov wurde zum Unterstützer der westlichen Allianz. Der Flughafen Termes an der südlichen Grenze wurde zur Drehscheibe, Usbekistan zum Angelpunkt des Afghanistan-Krieges.
In den letzten Jahren hat sich die Lage in Usbekistan noch einmal dramatisch verschärft. Seit den 90er-Jahren war Al Qaida in Usbekistan aktiv. Nun hat ein weiteres Schwergewicht die Arena betreten: Der IS. Der "Islamische Staat" soll in den letzten drei Jahren 4000 Kämpfer rekrutiert haben. Er ist mit Waffen, Geld, Informationen und Logistik gut ausgestattet, genießt Rückhalt im Ausland und ist hervorragend organisiert.
Drei islamistische Gruppierungen also in diesem zentralasiatischen Staat, der etwa ein Drittel größer ist als Deutschland. Und dann, im September 2016, starb Präsident Karimov, der seit 1991 das Land regiert hat. Der designierte Nachfolger, Schawkat Mirsijojew, ist ein Mann des Regimes, treuer Wegbegleiter Karimovs. Was bedeutet das für das Land? Und was für den Islam? Die russische Analystin Anastasia Kazimirko-Kirilowa fürchtet:
"Der Tod Karimovs öffnet dem IS die Tore, seine Arbeit in Usbekistan zu beginnen. Wenn die Eliten scheitern, sich auf einen starken Nachfolger zu einigen, wird das Land zu einem Nährboden für Instabilität und einem Bezugspunkt für den IS."

Armut und Repression sind der ideale Nährboden für die Islamisten

Viele Usbeken sind unzufrieden und wären einem Machtwandel nicht abgeneigt. Die Bereitschaft ist hoch, sich den Islamisten anzuschließen. Armut und Repression sind der ideale Nährboden für die Islamisten. Ihre Ideologie wäre die perfekte, tödliche Triebfeder der Gewalt, falls sich die sozialen und politischen Spannungen eines Tages entladen.
Vyacheslav Akhunov, der Künstler und Regimekritiker, ist alles andere als optimistisch – auch weil es Krieg zwischen den zentralasiatischen Staaten geben könnte.
"Die Zukunft ist düster. Entweder die Kolonialisierung durch Russland wiederholt sich, eine Rückkehr zur Sowjetunion. Oder es wird in den nächsten 20 Jahren permanenten Streit und möglicherweise Kriege in der Region geben, mit Usbekistans Nachbarn Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan. Der Streitpunkt wird das Wasser sein.
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