US-Wahl

Die Macht der Verdrängung

07:34 Minuten
Constanze Stelzenmüller, Brookings Institution Washington D.C.
Sieht viele US-Bürger als Realitätsverweigerer: Constanze Stelzenmüller von der Brookings Institution Washington D.C. © dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler
Constanze Stelzenmüller und Thea Dorn im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.11.2020
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Ein Teil der US-Gesellschaft wird von "einem wahnhaften Verdrängen der Wirklichkeit" angetrieben, sagt die Publizistin Constanze Stelzenmüller. Die Schriftstellerin Thea Dorn findet es niederschmetternd, wie falsch die Wahlprognosen wieder waren.
Die Publizistin Constanze Stelzenmüller sieht die USA "hälftig gespalten". "In der Mitte einer beispiellosen Pandemie, die bereits 230.000 Todesopfer gefordert hat, und einer beispiellosen Wirtschaftskrise mit Millionen von Arbeitslosen, gibt es zwei Lebensrealitäten, die kaum noch miteinander kommunizieren können", sagt sie mit Blick auf die Präsidentenwahl in den USA.

Angetrieben von Verschwörungstheorien

Die Zivilgesellschaft habe sich im Vorfeld der Wahl bemerkenswert aktiv und widerständig gezeigt, betont Stelzenmüller. Gleichzeitig müsse man aber auch feststellen, "dass ein Teil dieser Zivilgesellschaft angetrieben ist von Verschwörungstheorien, angetrieben ist von einem wahnhaften Verdrängen der Wirklichkeit, und zu dieser Wirklichkeit gehört auch schon die Pandemie mit 230.000 Toten. Eine Todesrate, die alle anderen in der westlichen Welt übersteigt."
Für die Schriftstellerin Thea Dorn wiederum ist es "niederschmetternd", wie "unfasslich falsch" erneut die Wahlprognosen lagen. Wenn sie sich in einen Trump-Anhänger versetze, der immer wieder von einem großen Vorsprung Bidens gelesen habe und dann einen so knappen Wahlabend erlebe, könne sie den dann entstehenden Zorn nachvollziehen.
"Ich frage mich, wie das sein kann, dass wir – und ich meine jetzt im weitesten Sinne auch die Medien – schon wieder denselben Fehler gemacht haben wie vor vier Jahren. Dass es so eine riesige Selbstgewissheit gab, das kann ja gar nicht anders sein, als dass der Biden das leicht holen wird." Sie hätte erwartet, dass mehr Medien "mit einem großen Vorbehalt" berichten und sich mehr Vorsicht gewünscht, so Dorn.

Ausblendung von Trumps Grausamkeit

Es gehe hier um Phänomene, die mit traditionellen Umfragetechniken nicht zu erfassen seien, betont Stelzenmüller. "Dazu gehört auch das Verdrängen von Problemen. Und dieses Verdrängen von Realität ist nicht im gleichen Maße auf beiden Seiten des politischen Korridors angesiedelt."
Während Dorn dafür plädiert, die Trump-Wähler nicht alle für Rassisten beziehungsweise für "unzurechnungsfähig" zu halten, geht Stelzenmüller mit diesen hart ins Gericht:
"Die Wähler von Trump haben offensichtlich die Bedeutung seiner Wirtschaftsreformen für sehr viel wichtiger gehalten als alles Andere, was er gemacht hat. Die Grausamkeit bei der Einwanderung, das tägliche Infragestellen der Grundsätze der Verfassung, die Grausamkeit gegenüber Minderheiten und Behinderten, die erratische Außen- und Sicherheitspolitik, die Frauenfeindlichkeit, der Rassismus, die offene Unterstützung von Diktatoren. Das ist schon bemerkenswert. Das muss ja ganz schön viel Energie kosten, all das auszublenden."
(ahe)
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