Urvolk ohne Land und Rechte

Argentinische Mapuche beim Third People's Summit
Argentinische Mapuche beim Third People's Summit © picture alliance / dpa
Von Gottfried Stein · 24.05.2012
Argentiniens Ureinwohner, darunter die Mapuche, kämpfen um die Anerkennung ihrer Territorien und die Erhaltung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. Sie haben meist keine Landtitel und werden bis heute von Großgrundbesitzern enteignet und vertrieben. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung.
Patagonien, im Süden Argentiniens. Eine schier unendliche, nur von kleineren Mittelgebirgszügen durchbrochene Steppe. Über Hunderte von Kilometer wechseln sich Trockenbüsche und dörre Büschelgräser ab, manchmal verlieren sich einzelne Baumgruppen, hinter denen sich fruchtbare Talböden verschanzen. Hier liegen die großen Estancias, riesige Güter mit zigtausenden Hektar Grund und unermesslichen Viehbeständen. Eine halbe Autostunde von Bariloche entfernt, der größten Stadt in der Region, hat Don Crespo seine Estancia:

"Wir sind hier in Arriba. Das ist ein kleines Gut, eine Estancia, ein Ort zum Leben. Hier züchten wir Tiere, man lebt, so gut man kann, aber man lebt gut. Hier werden die Tiere mit Pferden gehütet, mit berittenen Gauchos. Wir haben Kühe und bei Kühen muss man zu Pferd über das Land ziehen. Das Leben hier ist hart, denn man muss alle Tage hinaus, man muss viel gehen, sich um die Tiere kümmern, aber das ist schön, es ist hart, aber schön, ich bin achtzig Jahre alt und mir geht es immer noch gut."

Don Crespo, dessen wettergegerbtes Gesicht das raue Klima ahnen lässt, stammt aus einer der vielen weißen Einwanderfamilien, die sich hier ab Ende des 19. Jahrhunderts in der menschenleeren Gegend niedergelassen haben. Zu seinen Freunden zählt Hans Schulz, ein deutschstämmiger Antrophologe aus Bariloche, der Patagonien wie seine Westentasche kennt:

"Die Crespos kamen aus Chile. Viele waren spanischer Abstammung, viele aus Chile, aus Nordargentinien und dann kamen auch viele Mitteleuropäer, zum Beispiel Engländer, Deutsche oder Schweizer nach Bariloche und haben sich auch sesshaft gemacht. Die haben auch einfach das Land verlangt und viele wurden dann Großgrundbesitzer. Die hatten dann vielleicht mehr Glück oder größeren Einblick, die haben mehr verlangt. Also 40.000 Hektar oder 30.000."

"El Boliche Viejo", die alte Kneipe, ein über hundert Jahre altes Gebäude am Stadtrand von Bariloche. Einst ein richtiger Westernstore, heute Restaurant mit historischem Ambiente. Patagonien gilt noch immer als der Wilde Westen Argentiniens mit phantastischen Legenden. Die berüchtigten Wildwestdiebe Butch Cassidy und Sundance Kid zum Beispiel hatten sich einst nicht weit von Crespos Estancia niedergelassen - und in der "Boliche viejo" zeugen Fotos an den Wänden, dass sie hier gepokert haben. Zu den weniger schönen Geschichten zählt der Preis der Besiedlung, die Vertreibung der Indianer:

"Die ersten Weißen sind angekommen und haben sich einfach sesshaft gemacht. Sie sind mit den Schafen gekommen haben sich gedacht: 'Gut das gefällt mir. Hier ist Wasser, es stehen ein paar Bäume.' Hhaben was hingebaut und haben nachher nach vielleicht zehn, zwanzig Jahren eingezäunt und haben bei der Regierung das Land verlangt und das Land wurde ihnen gegeben, das Land war ja frei. Die Ureinwohner wurden irgendwie beseitigt. Sie konnten nicht schreiben und wussten überhaupt nicht Bescheid, wie unsere Gesetze waren, die sind dann ohne Land geblieben."

Auf dem Weg von Bariloche zur "Boliche Viejo", direkt an der Abzweigung der Landstraße Routa 23, steht ein einstöckiges, schlichtes Holzgebäude. Auf einem Bretterzaun ist mit weißer Farbe gemalt: "Mercado da Estepa" und darunter: "Comercio justo" sowie productos regionales". Hier ist seit über zehn Jahren der "Markt der Steppe" zuhause, der "fairen Handel" mit Produkten aus der Region" betreibt, die einheimische Mapuche-Indianer in Handarbeit nach der Technik ihrer Vorfahren herstellen. Ana Maria, ist für den Einkauf zuständig, und fährt oft mit dem Auto zu den weit verstreuten Dörfern in der Region:

"Insgesamt sind es mehr als 40 Weberinnen, die ihre Produkte hierherbringen. Wenn wir Fahrzeuge haben, fahre ich zu den Häusern und hole die Ware bei den Weberinnen ab, bringe sie zum Markt, und dort werden die Produkte verkauft und wir bringen ihnen dann das Geld."

"Früher hatten wir keine Möglichkeit, unsere Arbeiten zu vermarkten, wir wussten nicht , wohin wir sie bringen sollten, und in unseren Ortschaften, in den ländlichen Gebieten, gab es nur Tauschmärkte, das heißt: Die Leute tauschten die Ware für eine Tüte Mehl, ein Kilo Mate-Tee. Ein Produkt, das heute auf dem Markt vielleicht 800 oder 900 Pesos wert ist, wurde hier vor einigen Jahren für eine oder zwei Tüten Mehl getauscht."
Der Mercado de la Estepa ist ein Ausflug in die Kultur der Ureinwohner Patagoniens: Hier gibt es ausschließlich Produkte, die in den Dörfern außerhalb in Handarbeit hergestellt werden wie Ponchos, Mützen, bemalte Vasen oder gegerbte Fellteppiche. Estepa ist ein "fairer Markt", der angemessene Preise verlangt und die Erlöse weitgehend an die Hersteller weitergibt. Gegründet hat ihn Roberto Kilmit, ein ehemaliger Priester:

"Die Leute aus den landwirtschaftlichen Gegenden entdecken, dass sie mit ihrer Kultur, ihrem Kunsthandwerk authentische Produkte verkaufen können, die dank ihrer Authentizität gekauft werden. Das bringt ihnen ein Identitätsgefühl und auch wirtschaftlichen Nutzen. Die Person, die die Produkte herstellt, wird gewürdigt und bekommt dafür einen Lohn, der dem wahren Wert des Produkts entspricht."

Viviana Ferreda verkauft seit drei Jahren ihre handgestrickten Textilien im Estepa. An den langen pechschwarzen Haare, dem tiefbraunen Gesicht mit den leicht mandelförmigen Augen, und den geschmeidigen, wieselflinken Bewegungen ist ihre Herkunft Mapuche leicht zu erkennen. Die junge Frau, Ende Zwanzig, hat ein abgeschlossenes Hochschulstudium, aber das Leben vom Kunsthandwerk gefällt ihr besser:

"Eine Zeitlang kamen sehr viele und billige Importe ins Land, und wenn ich eine Jacke in einem Laden in der Stadt kaufte, dann kostete die weniger als die Hälfte einer handgearbeiteten Jacke. Heute ist das etwas anders geworden, und die Leute, vor allem die Touristen hier in der Gegend, suchen wieder handgewebte Stoffe, Naturwolle, Schurwolle, Handgestricktes. Ich weiß nicht, ob das modern ist, aber es wird heute wieder mehr gewürdigt."

Etwa 20 Kilometer östlich von Bariloche, auf einer Halbinsel des Nahuel Huapi Sees, liegt eingebettet in dichtes Gestrüpp und Nadelbäume eine kleine Siedlung: Ein gutes Dutzend schlichte Holz- und Lehmhäuser, Geräteschuppen, Hühnerställe, und ein Ziehbrunnen. Hier lebt Christina Marin mit ihrem Mann, ihrem Sohn und anderen Mapuche-Familien in einer Comunidad, in einer typischen Gemeinde der Indigenas:

"Diese Gemeinschaft nennt sich Lof Lafkenche. Sie besteht aus sechs Familien aus verschiedenen Gemeinschaften, die nicht wussten, wo sie leben konnten. Und deshalb haben wir vor neunzehn Jahren dieses Gebiet besetzt, um hier zu leben. Juristisch bilden wir eine kommunale Gemeinschaft, und alle Fortschritte, die wir auf diesem Territorium machen, machen wir gemeinschaftlich, zum Beispiel die Wasser- oder Gasversorgung, den Hausbau, einen Gemeinschaftsraum, alles machen wir gemeinsam."


Ein "Lof" ist in der Sprache der Mapuche eine Gemeinschaft, und "Laftkenche" bedeutet "Menschen, die am Wasser leben". Für die Mapuche ist die Verbundenheit mit der Natur ihre Lebensgrundlage. "Mapu" heißt Erde", und "Che" sind die Leute, die auf der Erde leben, weshalb viele Indigenas bis heute keine befestigten Fußböden in ihren Häusern haben, um den direkten Kontakt zur Erde zu halten. In der Region um Bariloche, einem der wichtigsten Tourismuszentren Argentiniens, gibt es ein rundes Dutzend besetzter Gemeinschaften, mit denen die Mapuche ihre aus ihrer Sicht legitimen Besitzansprüche auf die Erde ihrer Vorfahren durchgesetzt haben:

"Der Staat erkennt uns an, sowohl national, regional als auch auf der Gemeindeebene. Die Gemeinde versorgt uns mit Wasser, Gas, Strom. Die Leute hier in der Umgebung sind alle sehr wohlhabend, deswegen hat es ihnen nicht besonders gefallen, dass wir Mapuche gekommen sind, die Stadt ist ziemlich diskriminierend zu Besetzern, aber jeden Tag gewöhnen sie sich mehr daran."

Christina ist eine ausgebildete Lehrerin, und ehrenamtlich arbeitet sie als "assessora juridica", als Rechtshelferin für Mapuche. Gut zwei Stunden von Bariloche entfernt, nach einer Fahrt über eine unasphaltierte Landstraße, erreicht man Comallo, eine trostlose Kreisstadt inmitten der rauen Steppe Patagoniens. Die Heimat der Familie Lancon, die jahrelang um ihren Besitz kämpfen mussten, erzählt Christina:

"Das ist sozusagen normal bei den Mapuche. Es ist normal, dass große Landbesitzer zu Mitgliedern unseres Stammes sagen, dass sie ihre Ländereien kaufen und unsere Leute vertreiben. Das ist der übliche Kampf unserer Leute, immer die gleiche Situation: immer Verfolgung durch die Großen, durch reiche Landbesitzer, wichtige Personen, Rechtsanwälte, Richter, Politiker, die uns Mapuche behandeln, als seien wir Tiere."

Besuch bei den Lancons ist selten, und auch Fremde werden freudig begrüßt. Hier lebt die Witwe Pilar Lancon, gemeinsam mit ihren vier erwachsenen Kindern, Mirta, Patricia, Carlos und Juan. Der Hof liegt in einer Talsenke und ist wie eine Oase in der Wüste, mit Wasser und Stromanschluß, ohne Telefon oder Fernsehen, im Hinterhof dient eine Latrine als Toilette für alle. Pilar Lancon beginnt sofort zu erzählen:

"Die Mapuche haben keine Rechte, sagen sie, aber es sind die ältesten Besitzer, seit Urzeiten, seit Tausenden von Jahren. Ich habe hier nie Weiße gesehen, alle Leute hier sind Mapuche, alle, in all den Orten, das sind alles Mapuche. Aber heute haben die Mapuche für die Weißen keine Rechte mehr."

Pilar Lancon ist eine kleine, unter der Last vieler körperlicher Mühen frühzeitig gealterte Frau, ungefähr sechzig Jahre, mit einen wettergegerbten, von tiefen Falten und Furchen durchzogenem Gesicht. Aber ihre blitzenden Augen, die energischen Gesten, die kräftige Stimme unterstreichen ihren Kampfgeist. Es begann 2008, als plötzlich die Polizei mit einem richterlichen Beschluss vor der Tür stand und ihr verkündete, ihr Hof sei vom Staat rechtmäßig an einen einflussreichen Richter aus der Nachbarprovinz Neuquien verkauft, und sie und ihre Kinder sollen sofort das Gelände verlassen – ein Moment, an den sich ihre Tochter Mirta immer noch mit Grauen erinnert:

"Da haben sie uns aus unserem Haus vertrieben, die haben uns wirklich hinausgeprügelt und mit Füßen getreten, die haben uns gefesselt, 30 Polizisten, mit zwei Lastwagen von der Polizei , und wir sagten, dass wir nicht nachgeben würden, denn das Land war wirklich unseres, und wir hatten es weder ihnen noch sonst jemandem verkauft . Weder mein Vater noch meine Mutter hatten es je verkauft."

Drei Jahre kämpfte die Familie um ihr Land, musste hilflos mit ansehen, wie Tiere vertrieben und Felder zerstört wurden, kehrte immer wieder zurück, besetzte ihr eigenes Haus, wurde wieder vertrieben und schikaniert. Dann machte ein Richter in Bariloche dem Spuk ein Ende, denn die Lancons konnten etwas vorweisen, was die meisten Mapuche traditionell gar nicht haben: Eine Besitzurkunde, erstanden vor vielen Jahren, als die Lancons ein Stück Land dazugekauft hatten. Heute schützt die Polizei – eher widerwillig - die Familie, weil der Mafiosi mit seinen Leuten immer wieder kommt und droht. Aber sie kämpfen weiter:

"Das muss man ganz klar sagen, der hat einen Eigentumstitel, die verstehen etwas von Gesetzen, die haben Geld und kommen, das Land zu besetzen und die wollen uns alle von hier vertreiben. Und die sind sich der Folgen für uns nicht bewusst. Denn für die sind wir Indios, was macht das schon, wir werden schon nichts spüren. Für die sind wir wie Tiere, keine menschlichen Wesen, nicht einmal Tiere. Die sagen, was werden die schon verlieren, wenn sie nichts haben."
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