Urteile im Staufener Missbrauchsprozess

Ein Fall, der uns zum Nachdenken bringen sollte

Baden-Württemberg, Freiburg: Die angeklagte Mutter wird von Justizbeamten aus dem Gerichtssaal gebracht. Im Fall des schwer missbrauchten und an andere Männer verkauften Jungen aus Staufen stehen die Mutter des Kindes und ihr Lebensgefährte vor Gericht; Aufnahme vom 11. Juni 2018
Baden-Württemberg, Freiburg: Die angeklagte Mutter wird von Justizbeamten aus dem Gerichtssaal gebracht. © picture alliance/dpa
Birgit Marschall im Gespräch mit Marcus Pindur · 07.08.2018
Die Familie stand unter Aufsicht des Jugendamts. Der Partner der Mutter war Sexualstraftäter. In dieser Struktur wurde ein Junge jahrelang missbraucht. Die Journalistin Birgit Marschall spricht von Behörden- und Justizversagen.
Der Junge wurde jahrelang im Darknet wie eine Ware zum sexuellen Missbrauch verkauft - heute ist die Mutter des Kindes aus dem badischen Staufen zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden, ihr Lebensgefährte erhielt vor dem Landgericht Freiburg zwölf Jahre Haft und eine anschließende Sicherungsverwahrung. Die beiden sollen zudem ein dreijähriges Mädchen aus ihrem Bekanntenkreis missbraucht haben.
Der Fall hat auch deshalb Aufsehen erregt, weil Christian L., der Lebensgefährte der Mutter, den Behörden als verurteilter Sexualstraftäter bekannt war und die Verbrechen – möglicherweise durch Fehleinschätzung von Ämtern und Justiz – nicht verhindert wurden.

Mutter trat "wie eine Löwin" auf

Die Mutter wird als "emotional zurückgeblieben" und empfindungslos geschildert, während sie andererseits die Behörden offenbar täuschen konnte, weil sie dann "wie eine Löwin aufgetreten ist, um ihr Kind gekämpft hat und um die Beziehung mit dem verurteilten Sexualstraftäter Christian L.", wie unser Studiogast Birgit Marschall von der Rheinischen Post berichtet.
Zum Verhängnis wurde den Kindern zudem, dass die Behörden untereinander nicht gut vernetzt waren und schlecht zusammengearbeitet haben, so dass die vorliegenden Informationen nicht zusammengefügt werden konnten. Für Birgit Marschall reiht sich dieses Versagen in eine Kette anderen Versagens ein:
"Ich finde, es gibt eine Reihe von Fällen, die öffentlich geworden sind: Das fängt an mit den schrecklichen NSU-Morden der Rechtsradikalen, die eben über zehn Jahre nicht aufgeklärt wurden in Deutschland; oder eben die schreckliche Sache mit dem IS-Terroristen Anis Amri, wo wir das ja auch kennen mit dem Behördenversagen."

"Informationen aufgenommen, aber nicht ausgetauscht"

In dem Staufener Missbrauchsfall sei das Jugendamt früh aufmerksam geworden und habe das heute zehnjährige Kind auch tatsächlich für einige Zeit aus der Familie genommen. Doch dabei sei es nicht geblieben, wie Marschall weiter ausführt:
"Die Mutter hat dann wieder drum gekämpft, dann ist er wieder zurückgekommen, und so weiter. Und es haben Behörden nicht untereinander Informationen ausgetauscht, vor allen Dingen auch nicht die Gerichte."
Genau hier setzt auch die Kritik des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, an. Er forderte im SWR eine Stärkung der Jugendämter und Familiengerichte:
"Der Fall Staufen zeigt, dass viele Informationen aufgenommen wurden, aber nicht richtig ausgetauscht wurden und dadurch das Kindeswohl so sehr unter die Räder gekommen ist." Man müsse über "eine verbesserte Zusammenarbeit aller Beteiligten in diesem wirklich sehr, sehr schwierigen, komplexen Familienrechtsverfahren" sprechen und auch Veränderungen herbeiführen. "Wir brauchen auch dringend eine finanzielle Stärkung der Jugendämter und der Familiengerichte."

Zahlen zum Thema sexueller Missbrauch an Kindern:
Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für das Jahr 2016 in Deutschland über 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren allein für sexuellen Kindesmissbrauch (§§176, 176a, 176b StGB). Opfer dieser Straftaten sind zu etwa 75 Prozent Mädchen und zu 25 Prozent Jungen. Bei diesen Zahlen handelt es sich um das sogenannte Hellfeld. Das Dunkelfeld ist weitaus größer. Hier gehen Wissenschaftler davon aus, dass in der deutschen Bevölkerung jede/r Siebte bis Achte sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat. Die Weltgesundheitsorganisation geht von rund 18 Millionen Minderjährigen aus, die in Europa von sexueller Gewalt betroffen sind. Das sind auf Deutschland übertragen rund eine Million Mädchen und Jungen. Dies bedeutet, dass etwa ein bis zwei Schülerinnen und Schüler in jeder Schulklasse von sexueller Gewalt durch Erwachsene betroffen sind. (Quelle: Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs)

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