Urteil im Mordfall Walter Lübcke

"Die Gefahr von rechts wird bagatellisiert"

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Mit Schildern und Plakaten erinnern Demonstranten vor dem Landgericht an das Schicksal des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Protest gegen rechte Gewalt: Vor dem Urteil gedachten Menschen in Frankfurt am Main des ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke. © Picture Alliance / dpa / Boris Roessler
Mehmet Daimagüler im Gespräch mit Nicole Dittmer · 28.01.2021
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Nach dem Urteil gegen den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bleiben Fragen offen. So könne kein Rechtsfrieden hergestellt werden, meint der Anwalt Mehmet Daimagüler. Dafür müssten auch heikle Zusammenhänge aufgeklärt werden.
Lebenslange Haft für den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, so lautet das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main heute. Dieses hat zudem eine besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit ist es so gut wie ausgeschlossen, dass der Verurteilte nach 15 Jahren vorzeitig freikommt.

Frühere versuchte Tötung kein Thema

In der Nacht zum 2. Juni 2019 war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen worden. Den Mord gestand der 47-jährige Stephan E., der wie der Mitangeklagte Markus H. jahrelang Teil der rechten Szene war. Lübcke hatte sich vor allem seit 2015 offen für die Unterstützung von Geflüchteten eingesetzt.
Der Anwalt Mehmet Daimagüler, der die Nebenklage im Münchner NSU-Prozess mit vertrat, begrüßte das Urteil gegen Stephan E., zu bedauern sei aber, so der Jurist, dass der Angeklagte nicht für die versuchte Tötung eines Geflüchteten 2015 verurteilt worden ist.
Auch die Angehörigen Walter Lübckes zeigten sich mit dem Urteil nicht zufrieden. Mit dem Verfahren sei wohl kein Rechtsfrieden hergestellt worden, vermutet Daimagüler. Um dies zu erreichen, sei es notwendig, auch den institutionellen Rassismus oder die Rolle von Verfassungsschutzbehörden mit aufzuklären.
Wenn dies gelinge, kann dies auch zur Prävention weiterer Straftaten helfen, ist Daimagüler überzeugt. "Wenn aber ein Bogen um die auch für den Staat heiklen Themen gemacht wird, dann wird eine Wunde nicht heilen, sondern wird vereitern - und immer wieder aufplatzen."

"Erste zaghafte Ansätze" für ein Umdenken

Der Jurist zeigt sich angesichts der von der Politik erneut erhobenen Forderung nach gesellschaftlicher Aufarbeitung skeptisch. Nach jedem neuen rechten Anschlag werden solche Forderungen laut, kritisiert er: Diese seien "Lippenbekenntnisse". So seien in der Vergangenheit immer wieder Möglichkeiten für die Aufklärung verpasst worden, etwa beim NSU-Prozess in München.
Beispielhaft dafür sei der damalige hessische Innenminister und derzeitige Ministerpräsident Volker Bouffier, der nicht alle Akten zum NSU-Komplex herausgegeben hatte. "Er muss sich fragen, welche Verantwortung er hat dafür, dass es auch zum Mord an Herrn Lübcke gekommen ist", unterstreicht Daimagüler.
Doch der Jurist sieht auch "erste zaghafte Ansätze, dass einige in den Sicherheitskräften und in der Politik beginnen zu verstehen, dass wir ein echtes Problem haben". Dem gegenüber stehen aber noch immer "diese Beschwichtigungsrituale: ‚Die Morde im Münchner Olympia-Einkaufszentrum waren die Tat eines psychisch-gestörten jungen Mannes; die Morde in Hanau - auch ein psychisch Gestörter.‘"
Bei rechten Anschlägen werde der Kontext nicht gesehen, so Daimagüler. Zu diesem gehöre eine Politik, "die nach wie vor gezielt Ressentiments gegen Minderheiten fördert, die Gefahr von rechts ständig bagatellisiert und rechtsextreme Vorfälle bei der Polizei als Einzelfälle runterspielt". Der Anspruch, eine wehrhafte Demokratie zu sein, werde damit nicht umgesetzt, so der Anwalt.

Stimmungsmache gegen Minderheiten bleibt Problem

Notwendig sei deswegen "eine schonungslose Analyse über den Zustand", fordert Mehmet Daimagüler. Dazu gehöre auch, "inwiefern staatliche Organe die rechtsextreme Gefahr befördern". Untersucht werden müsse auch die Rolle von V-Leuten der Verfassungsschutzbehörden und die Rolle von Rechtsextremen in Uniform, die - anstatt sie zu entfernen - "im Dienst gehalten werden".
Zur Problemlage gehöre zudem, dass immer noch Stimmung gegen Minderheiten gemacht werde: "Wie heute gegen Sinti und Roma gesprochen wird, da darf man sich nicht wundern, wenn sich am Ende jemand findet, der zur Waffe greift und schießt."
(rzr)
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