Urteil im Fall Lüdge

Die Opfer in den Mittelpunkt rücken

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Der Schattenriss eines Mädchens
Missbrauch werde oft zu spät erkannt, kritisiert die Psychologin Julia von Weiler. © picture alliance / Humbert
Julia von Weiler im Gespräch mit Julius Stucke · 05.09.2019
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Nach Fällen von Kindesmissbrauch werde meist auf die Täter geschaut, meint die Psychologin Julia von Weiler. Dadurch würden die Betroffenen in den Hintergrund rücken. Dabei sei es notwendig, ihnen zuzuhören - auch, um zukünftige Taten zu verhindern.
Im Prozess um den hundertfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde hat das Gericht hohe Haftstrafen gegen die zwei Hauptangeklagten verhängt und anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet.
Die Psychologin Julia von Weiler arbeitet seit vielen Jahren zum Thema Missbrauch von Kindern und ist im Vorstand des Vereins "Innocence in Danger". Sie begrüßt im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur die heutige Entscheidung des Gerichts:
"Dieses Urteil ist tatsächlich ein wichtiges Signal für die betroffenen Mädchen und Jungen, weil es ihnen total recht gibt. Es sagt ihnen, man hat euch Gewalt angetan; diese Männer durften nicht tun, was sie getan haben, und sie werden dafür auch bestraft. Das ist ein Teil der Heilwerdung für die Betroffenen. Dennoch liegt noch ein ganz langer Weg vor ihnen."

Tat holt Opfer immer wieder ein

Ein Missbrauch sei immer die Verletzung des Urvertrauens – "es ist die große Ohnmacht". Die Opfer seien dadurch nachhaltig verstört, so die Psychologin. Damit gingen die Betroffenen auf unterschiedliche Arten und Weisen um, unter anderem mit verändertem Verhalten. Diese Signalsprache müsse von Erwachsenen verstanden und übersetzt werden, um Missbrauchsfälle zu erkennen. Wenn dies bei Kindern beobachtet werde, sei es notwendig, Hilfe zu holen, sagt von Weiler.
Nach einem Missbrauch sei nichts mehr so, wie es vorher war. Das bedeute aber nicht, dass die Betroffenen unglückliche und schwerstgeschädigte Erwachsene werden müssten, erklärt Julia von Weiler. "Aber der Missbrauch bleibt Bestandteil ihrer Lebensgeschichte." Die Tat werde sie immer wieder einholen. "Je besser die Hilfe ist, die sie bekommen, und je nachhaltiger diese Hilfe verankert werden kann, desto besser kann man sie darin unterstützen, zufriedene, glückliche und zuversichtliche Erwachsene zu werden."

Eine Million missbrauchte Kinder

Wichtig sei, dass die betroffenen Kinder begreifen, dass man verstanden habe, was sie gesagt haben. Viele Opfer müssten sich erst an sechs bis acht Erwachsene wenden, bis ihnen schließlich geholfen werde. Im Fall Lügde sei es so gewesen, dass es viele unterschiedliche Signale von Kindern gegeben habe – doch sei nichts passiert.
Wünschenswert wäre zudem, dass die Betroffenen schnell in die Hilfsprogramme wie Therapien und beraterische Begleitung aufgenommen würden, erklärt Julia von Weiler. Außerdem sei es wichtig, dass während des Verfahrens jemand an ihrer Seite bleibe und sie stabilisiere.
Die Weltgesundheitsorganisation gehe davon aus, dass in Deutschland eine Million Kinder von sexueller Gewalt betroffen seien. Somit würden statistisch gesehen in jedem Klassenraum oder in jeder Kindergartengruppe eins bis zwei betroffene Kinder sitzen. Das bedeute, so von Weiler, dass jeder ein betroffenes Mädchen oder einen betroffenen Jungen kenne – aber auch, dass die Täterinnen und Täter bekannt seien. "Denn Missbrauch findet im Nahfeld statt."

Kinder werden oft vergessen

Das sei problematisch: "Wir wollen uns nicht vorstellen, dass in unserer Elterngruppe, in unserem Sportverein, in unserem Chor, in unserem Dorf oder unserem Kiez Täter und Täterinnen mitten unter uns leben und Kinder missbrauchen." Dies führe dazu, dass wir Andeutungen von Kindern nicht verstehen – "oder auch nicht verstehen wollen und ihnen dann nicht helfen".
Bei der Auseinandersetzung mit Missbrauchsfällen werde zu oft auf die Täter geschaut, kritisiert Julia von Weiler. Dabei würden die betroffenen Kinder vergessen. Wobei die Opfer diejenigen seien, um die sich besonders gekümmert werden müsse. "Es erschüttert mich immer wieder, wie sehr sich dann alle mit den Tätern und der Täterwerdung beschäftigen."
Wichtiger sei es, den Betroffenen besser zuzuhören und diese auch besser zu versorgen. "Das bedeutet, wir müssen anfangen, alltäglicher und selbstverständlicher über dieses Thema zu reden und nicht immer auf solche krassen Fälle wie Lügde zu warten." Vielmehr müsse verstanden werden, dass "sexueller Missbrauch ein Alltagsphänomen in Deutschland" sei. Doch jede und jeder könne dazu beitragen, dass dies nicht mehr so häufig passiere oder früher beendet werde.
(rzr)
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