Ursula Lehr: Das Leiden muss erträglich gemacht werden

Moderation: Jürgen König |
In der Diskussion um organisierte Sterbehilfe hat die ehemalige Bundesfamilienministerin Ursula Lehr, Gründerin des Zentrums für Gerontologie und des Deutschen Zentrums für Alternsforschung (DZFA), jegliche Form der aktiven Sterbehilfe abgelehnt. Es müsse alles getan werden, um das Leiden erträglich zu machen, sagte die Wissenschaftlerin.
Jürgen König: Heute berät der Bundesrat über das Vorhaben der Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Thüringen und Saarland. Sie wollen organisierte Sterbehilfe verbieten lassen. Mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe soll die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung in Zukunft geahndet werden. Die Debatte um die Sterbehilfe ist mit dem Fall Roger Kusch neu aufgeflammt. Der frühere Hamburger Justizsenator hatte der 79-Jährigen Bettina Schardt einen Medikamentenmix gegeben, mit dem die Frau sich dann das Leben nahm aus Angst vor einem Leben im Altenheim.

Sterbehilfe unser Thema. Ich begrüße eine Frau, die Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte studiert hat, die in Köln, Bonn und Heidelberg Professorin für Pädagogik und pädagogische Psychologie war. In Heidelberg hatte sie den ersten deutschen Lehrstuhl für Gerontologie, für wissenschaftliche Alterskunde inne. Von 1988 bis 91 war sie Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Und noch heute ist sie in der Altersforschung, in der Gerontologie tätig. Ursula Lehr, guten Morgen!

Ursula Lehr: Schönen guten Morgen, Herr König!

König: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Thüringen und das Saarland wollen organisierte Sterbehilfe verbieten lassen. Sie finden das richtig?

Lehr: Selbstverständlich. Eine geschäftsmäßige Vermittlung von Sterbehilfe ist ein Ding der Unmöglichkeit.

König: Sollte organisierte Beihilfe zur Selbsttötung dann nicht ganz generell verboten werden?

Lehr: Aber sicherlich.

König: Warum?

Lehr: Wir haben nicht das Recht, organisierte Beihilfe sowieso verboten hätten. Ich bin sogar gegen jede Form der Selbsttötung.

König: Gut. Andererseits die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat vor einigen Tagen eine Umfrage veröffentlicht. Danach sind fast zwei Drittel aller Deutschen dafür, dass ein schwerkranker Patient zum Beispiel im Krankenhaus den Tod wählen, von seinem Arzt sich eine todbringende Spritze verlangen kann. Ist das nicht eine erstaunlich hohe Zustimmungsrate für diese Form?

Lehr: Das ist erstaunlich hoch, aber das ist Angst vorm Leiden und nicht Angst vorm Sterben. Und Angst vorm Leiden müssen wir nicht durch Sterbehilfe, sondern durch Sterbebegleitung abmildern. Wir brauchen einen Ausbau der Palliativmedizin. Wir brauchen einen Ausbau der Hospizarbeit. Wir müssen den Menschen helfen, die Angst vorm Sterben, vorm Leiden zu nehmen. Denn der Tod wird von den meisten Menschen einkalkuliert, das haben auch unsere Studien sehr deutlich gezeigt, selbst Hochaltrige. Der Tod ist etwas Selbstverständliches. Aber das Leiden fürchtet man. Und wir müssen alles tun, das Leiden erträglich zu machen.

König: Auch wir haben eine Hörerrunde zum Thema Sterbehilfe durchgeführt. Alle Beteiligten, der jüngste 46, die älteste Hörerin 85 Jahre alt, sprachen sich für die Sterbehilfe aus. Vielleicht, um die Diskussion anzustacheln, hören wir mal die Hörerin Ruth Georgi, 85 Jahre alt:

Ruth Georgi: Ich bin für die Sterbehilfe. Ich bin mittlerweile 85 Jahre, bin natürlich nicht mehr die Jüngste und auch krankheitlich sehr belastet. Ich möchte nicht, dass ich in ein Krankenhaus komme und mein Leben noch verlängert wird, wenn ich Schmerzen habe. Sicher, es wurde gesagt, Gott hat das Leben gegeben, Gott nimmt es auch wieder. Aber es ist doch so, die Schmerzen, die kann doch ein gesunder Mensch oder ein kranker Mensch gar nicht aushalten. Warum gibt man nicht die Erlösung? Ich habe das bei meinem Vater erlebt, der ist 1975 gestorben. Da war es auch traurig, wie er da lag. Er konnte nicht sterben und nicht leben. Warum gibt man nicht solchen Menschen die Möglichkeit, in Ruhe einzuschlafen?

König: Ruth Georgi, unsere Hörerin, 85 Jahre alt. Frau Lehr, was würden Sie Frau Georgis sagen?

Lehr: Nun, sie hat recht, künstliche Lebensverlängerung in Fällen, wo es völlig klar ist, dass man nur den Prozess hinauszögert, die lehne ich auch ab. Und eine Spritze zum Sterben, das wäre allerdings aktive Euthanasie, die lehne ich erst recht ab. Ich akzeptiere Schmerzmittel, selbst wenn die Schmerzmittel mit dazu führen, dass die Lebenszeit etwas verkürzt wird. Aber da ist in erster Linie das Verhindern der Schmerzen und nicht die Verkürzung der Lebenszeit.

König: Und die entscheidende Frage ist doch, wie soll mit Todkranken, mit qualvoll Leidenden verfahren werden? Soll man die Apparate laufen lassen, das Leben bis zum technisch Machbaren immer weiter verlängern? Ist das im Sinne einer christlichen Ethik?

Lehr: Bis zum technisch Machbaren bestimmt nicht. Bis zum technisch Machbaren, dann können Sie einen noch ganz lange am Leben erhalten. Nein, das nicht. Ich bin für ein Mit-Würde-Sterben, das heißt lebensverlängernde Apparate, dort, wo es nicht notwendig ist, wirklich nicht mehr einzusetzen oder wie es auch in Einzelfällen geschehen ist, wo der Tod ganz vor der Tür stand und man dann herzsteigernde Mittel gegeben hat. Das sind Dinge, da bin ich dagegen. Aber ich möchte nicht künstlich den Tod schneller herbeiführen.

König: Auch nicht, wenn jemand sagt, ich bin mit meinem Leben so weit, dass ich jetzt selbst bestimmen möchte, jetzt ist es genug, ich will diese Schmerzen nicht mehr ertragen?

Lehr: Das ist in den seltensten Fällen der Fall.

König: Na, bei Patientenverfügungen schon immer mal wieder.

Lehr: Das kann ich Ihnen sagen, vor schon längerer Zeit lief eine Studie hier in Bonn von einem Arzt und Psychologen. Der Arzt war als solcher auf der Intensivstation tätig, hat dann die Patienten, die es überlebt haben, in dem Zimmer hinterher aufgesucht und mit denen gesprochen. Das Ergebnis? Selbst Patienten, die im Koma sind, bekommen weit mehr mit, als der Mensch denkt. Sie bekommen mit das Techtelmechtel zwischen Arzt und Schwester, sie bekommen alles Mögliche mit, sie bekommen auch mit, wenn da vor dem Bett Ärzte und Personal steht und sagen, aus dem wird nichts mehr.

Und ein großer Teil dieser Patienten berichtete auch, sie hätten zu Lebzeiten, zu Zeiten, als es ihnen gut ging, gesagt, nie mehr an Maschinen dran. Und in der Situation hätten sie befürchtet, dass die Maschinen abgestellt werden. Mit anderen Worten, das, was ich heute, wo es mir relativ gut geht, sage, ich möchte auf keinen Fall an Maschinen angeschlossen werden usw., kann dann in der Situation, in der ich mich selber vielleicht nicht mehr artikulieren kann, eine ganz andere Meinung sein.

König: Na ja, gut. Aber ich meine, wozu macht man Patientenverfügungen, wenn nicht, um bei klarem Verstand Entscheidungen zu treffen, die man eben dann möglicherweise später nicht mehr treffen kann und auch mit dem Vertrauen darauf, dass der eigene Wunsch auch respektiert wird.

Lehr: Bitte, wer sie macht, möge sie machen. Man möge dann nur nicht diesen sonderbaren Titel „Sterben in Würde“ geben. Denn ob das Würde ist, ob auch der Fall von Herrn Kusch ein Sterben in Würde war, würde ich sehr bezweifeln. Ich selber habe keine Patientenverfügung. Ich habe wohl eine Betreuungsverfügung, aber keine Patientenverfügung.

König: Die „Welt“ titelte gestern auf der ersten Seite, Deutsche haben Angst vor Pflegeheimen. Sie haben vorhin gesagt, Frau Lehr, dass man vor allem das Leiden mindern muss, um ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Man liest auch, die Zahl der Suizide alter Menschen ist nach wie vor sehr, sehr hoch. Sehen Sie Chancen, wie man daraus ein Sterben in Würde ermöglichen könnte, herbeiführen könnte, wenn die Situation denn doch offenkundig sehr schlecht ist, auch in den Pflegeheimen?

Lehr: Zunächst einmal Angst vor Pflegeheimen. Sicher, es gibt eine Reihe von Pflegeheimen, Herr Fussek hat ja da seinen Finger auf die Wunde gelegt, mit Recht, die sehr veränderungsbedürftig sind. Aber es gibt sehr, sehr viele Pflegeheime, in den sich die Menschen wohlfühlen. Und vielleicht müssen die Medien sich auch einmal überlegen, ob man wirklich nur die Negativbeispiele zeigt oder ob man auch manchmal zeigt, Beispiele, in denen der Mensch aufgehoben ist, in denen er bis zum Schluss begleitet wird.

Schauen Sie, wir hier, ich bin in Bonn, im Rheinviertel, in Godesberg, wir haben von der katholischen Kirchengemeinde, von der Bürgerstiftung Rheinviertel haben wir Schwestern hergeholt, die speziell ausgebildet sind für Hospizbegleitung. Und die gehen in die Altenheime hier und stehen den Menschen in der letzten Stunde bei. Und ich finde, so etwas müsste man deutlicher machen.

König: Wenn organisierte Sterbehilfe in Deutschland verboten werden sollte, eine Folge könnte auch sein, dass der Sterbetourismus in die Schweiz zum Beispiel oder auch in die Niederlande, wohl schon eine Selbstmordpille für jedermann propagiert wird, dass das zurückginge oder ganz aufhörte. Wäre das nicht ein Vorteil?

Lehr: Worin sehen Sie darin den Vorteil?

König: Dass der Sterbetourismus aufhört, weil das finde ich noch würdeloser, in der Schweiz auf einem Parkplatz zu sterben, zum Beispiel.

Lehr: Das finde ich auch würdelos. Aber es fragt sich, was hier würdeloser ist, ob der Fall Kusch oder ob das Am-Parkplatz-Sterben. Ich finde, beides ist schrecklich.

König: Was glauben Sie, wie geht das aus heute, die Beratung im Bundesrat? Wird es zu einem Verbot organisierter Sterbehilfe kommen?

Lehr: Ich hoffe sehr.

König: Vielen Dank! Heute berät in Berlin der Bundesrat über das Vorhaben einiger Bundesländer organisierte Sterbehilfe verbieten zu lassen. Ein Gespräch mit der Psychologin, Philosophin und Gerontologin Prof. Ursula Lehr.