Ursula Krechel: "Geisterbahn"

Risse in der Wirtschaftswunderfassade

Buchcover Ursula Krechel: "Geisterbahn" - im Hintergrund Menschen beim Einkaufen.
Die Geschichte ist glänzend komponiert und vermittelt das gesellschaftliche Klima der späten 1940er-Jahre in Deutschland. © Jung und Jung / picture-alliance / akg-images
Von Maike Albath · 06.09.2018
Trier in der Nachkriegszeit: Über die NS-Zeit herrscht Schweigen, doch unter der Oberfläche rumort die Vergangenheit. In "Geisterbahn" widmet sich Ursula Krechel dem Schicksal der Sinti und Roma und den Folgen von Unrecht und Verbrechen.
Was ist gespenstischer als Schweigen? Als ein geflissentliches Übersehen von erlittenem Unrecht, von Verbrechen, Verfolgung, Mord? Als muntere Geschäftigkeit und duckmäuserische Anpassung? Im Trier der Nachkriegszeit, wie es Ursula Krechel in ihrem bedrängendem Roman "Geisterbahn" so anschaulich schildert, wahrt man die Form und reißt sich zusammen. Dass Lucie, die Frau des Schaustellers Alfons Dorn, mit ihrem Mann Auschwitz überlebt hat und dort fünf ihrer Kinder umkamen, will niemand wissen. Die vielköpfige Sinti-Familie mit ihrem Jahrmarkt-Karussell war ohnehin vielen suspekt. Und wieder stören sie, denn allein durch ihre Existenz erinnern sie an etwas, das viele lieber vergessen würden. Nur ihre Tochter Annchen, die Lucie manchmal von der Schule abholt, malt sich mit einem befreienden Umkehrschluss aus, wie schön es wäre, wenn ihr Vater eine Geisterbahn betreiben würde.

Im Schweigen erstarrt

Krechel, 1947 in Trier geboren und für "Landgericht" (2012) mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, komplettiert mit "Geisterbahn" ihr breit angelegtes Epochenbild, wendet sich jetzt den Geschicken der Sinti und Roma zu und liefert zugleich die Chronik einer Provinzstadt. Mit ihrer Erzählerfigur, dem Polizistensohn Bernhard, der im Verlauf des Romans immer deutlicher hervortritt und das Verdrängte zutage fördert, rückt sie ihrer eigenen Generation nahe. Es entsteht ein schillerndes Gewebe aus verschiedenen Erzählsträngen, Zeitebenen und Figurengruppen mit Ausläufern bis in die unmittelbare Gegenwart. Den magnetischen Kern bildet die Familie Dorn, die 1940 deportiert wurde.
Die jüngste Tochter der Familie geht nach dem Krieg mit Bernhard in dieselbe Schulklasse, und diese Klasse ist über die Elternhäuser eine Art Schnittstelle der verschiedenen Milieus. Da gibt es nicht nur den Polizistenvater, der sich allein durch seine Dienstpflichten in die Verbrechen der NS-Zeit verwickelte und dessen Unantastbarkeit durch die Schreibung in Großbuchstaben unterstrichen wird: MEINVATER. Es gibt auch den sich geschickt durchlavierenden Arzt Dr. Neumeister, der später ausgerechnet Psychiater wird, und den mutigen Kommunisten Willi Torgau, die Schaustellerfamilie Dorn und schließlich die für Provinzverhältnisse viel zu elegante Grit Berghausen, die nicht einmal einen vernünftigen Ehemann aufweisen kann. Aber die Kinder durchbrechen die gesellschaftliche Erstarrung.

Gewalt, die weiter wütet

Ähnlich wie Krechels anderen beiden Bände "Shanghai, fern von wo" (2008) und "Landgericht" besticht "Geisterbahn" durch den formal glänzend komponierten Stoff – was wusste man bisher über Luxemburg vor der deutschen Besatzung, was über die Trierer Verwaltung und Amtskirche? –, das Figurenensemble und die sorgfältige Sprache mit ihren behutsam verwendeten lyrischen Stilmitteln. Das gesellschaftliche Klima vermittelt die Schriftstellerin über Zeitdokumente, Fragebögen und Anzeigen in Schausteller-Zeitschriften. Ursula Krechel erzählt auch von der Gewalt, die unter der Wirtschaftswunderoberfläche weiter wütet. Im Untergrund rumort immer noch die Vergangenheit.

Ursula Krechel: "Geisterbahn"
Jung und Jung 2018, Salzburg und Wien
640 Seiten, 32,00 Euro

Mehr zum Thema