Urban Explorer

Die Stadt gehört uns

04:35 Minuten
Mit einer Taschenlampe geht ein Mann durch ein verlassenes Gebäude.
Auch Orte lassen sich "hacken": Ein Urban Explorer in einer verlassenen Festung der russischen Marine in Wladiwostok. © picture alliance / Yuri Smityuk/TASS/dpa
Von Jule Hoffmann · 08.06.2019
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Stillgelegte U-Bahnhöfe, Industriebrachen, Hochhausdächer: Mit Kamera und Taschenlampe erkunden Urban Explorer Orte, zu denen man normalerweise keinen Zugang hat. Ihre Entdeckungstouren dokumentieren sie im Netz und behaupten damit ihr Recht auf Stadt.
Ausgestattet mit einer "GoPro"-Kamera kraxelt Fritz Meinecke über Zäune, wacklige Leitern und steigt durch kaputte Fenster: "Hier ist so ein komisches Loch im Zaun. Einmal drunter durch, okay. Guckt euch das mal an, hier ist alles schwarz. Das ganze Ding hat hier bestimmt mal gebrannt, krass."
Fritz ist einer von vielen, die sich von der Stadt herausgefordert fühlen, die Regeln zu brechen und das auf Youtube hochzuladen: Es gibt Parcours-Videos und sogenannte Challenges, an denen sich vor allem männliche Explorer abarbeiten – mit gefragten Skills wie Free Climbing und Abseilen. Zu diesen zählt auch der Brite Ally Law, der in Freizeitparks und Schwimmbäder einbricht oder auf die Dächer von Shoppingmalls klettert.
Andere Urban Explorer haben sich aufs Erkunden und Fotografieren verlassener Gebäude oder verfallener Infrastruktur verlegt. Im Libanon organisiert Fadi Badran Gruppenausflüge zu leerstehenden Villen und heruntergekommenen Herrenhäusern aus den 20er- und 30er-Jahren. Die Nachfrage ist groß, vor allem unter jungen Libanesen.

Fundstücke in verlassenen Häusern

"Die jüngere Generation hat den Bürgerkrieg nicht miterlebt und sie will mehr erfahren über die Kriegsjahre", erzählt er. "Und wenn man an diese Orte kommt, kriegt man zumindest eine Idee davon, was während des Kriegs passiert ist. Es gibt zahlreiche Geschichten in diesen Häusern, es ist unglaublich, was wir dort alles finden: Fotos, Kleiderschränke, Haushaltsgeräte."
Auf dem von Badran angelegten, community-basierten Instagram-Account "Lebanese Urbex" werden jeden Tag neue Fotos hochgeladen, um Orte festzuhalten, bevor der Abrissbagger kommt. Genau dieses Dokumentieren wird Urban Explorern aber oft zum Verhängnis: Erst als er Fotos von stillgelegten Londoner U-Bahn-Stationen ins Netz stellte, geriet er in Konflikt mit dem Gesetz, sagt der aus Kalifornien stammende Geograf Bradley Garrett.
"Womit wir nicht gerechnet hatten, war, dass die Polizei in London das als einen massiven Angriff auf ihr Sicherheitsnarrativ betrachten würde. Die U-Bahn in London ist eines der teuersten Transportsysteme weltweit, und zwar wegen der hohen Investitionen für Sicherheit. Jedes Mal, wenn wir Fotos online stellten, machte das nur allzu deutlich, dass wir an den Sicherheitsleuten und Überwachungskameras vorbeigeschlichen waren. Wir machten damit klar, dass der gesamte Sicherheitsapparat versagt hatte."

Grenzen werden ausgetestet

Ein zwei Jahre dauernder Gerichtsprozess war die Folge. Garretts Ausweis wurde konfisziert und er konnte Großbritannien für drei Jahre nicht verlassen. Für ihn sei es eine politische Frage, sich gegen den Strom der Stadt zu bewegen, sagt er im Podcast des Guardian.
"Urban Exploration unterläuft das gängige Narrativ, dass es nicht möglich ist, bestimmte Dinge zu tun. Wenn ich Leuten sage, dass ich auf den Shard Tower geklettert bin, bevor er fertiggestellt war, sagen die Leute, nein, das ist unmöglich. Die Wahrheit ist, es war nicht nur möglich, es war einfach. Aber niemand kommt darauf, über den Bauzaun zu klettern und das Treppenhaus hochzurennen. Es geht darum, die Vorstellung davon zu ändern, was möglich ist. Und wenn einem das gelingt, wird einem klar, dass all die Systeme, die unser Verhalten und unser Agieren im Alltag kontrollieren, eine Fiktion sind."

Auch Orte lassen sich "hacken"

In seinem Buch "Explore everything: Place-Hacking the city" beschreibt Garrett das Ausbrechen aus vorgegeben städtischen Strukturen als Methode: Einen Ort zu hacken heißt für ihn, dessen unsichtbare Grenzen zu erkennen und sie zu überschreiten, den Ort körperlich zu erfahren. Er knüpft damit an Marc Augé an, der den Begriff des Nicht-Ortes prägte. Monofunktional genutzte Stadträume wie Parkhäuser, Einkaufszentren, Autobahnbrücken ohne "Identität, Relation und Geschichte" werden durch Urban Exploring wieder zu Orten. Fast scheint es, als hätte sich in genau dem Maße, wie öffentlicher Raum kommerzialisiert und privatisiert wurde, Urban Exploring verbreitet.
Folgt man Garrett, dann ist Urban Exploration ein einfaches, jedem frei stehendes Mittel, sein Recht auf Stadt zu behaupten.
"Du brauchst niemanden zu treffen, du musst auf nichts warten, geh los! Pack deinen Rucksack an einem Freitagabend, nimm zwei Taschenlampen mit, ein Handy mit vollem Akku und geh los, spring über Zäune, schleich dich in Gebäude und schau, was du finden kannst. Du wirst überrascht sein, wieviel mehr von der Stadt dir offen steht, als du dachtest."
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