Upstairs, Downstairs

Die britische Schauspielerin Diana Rigg als Geheimagentin "Emma Peel" mit ihrem Partner John Steed, gespielt von Patrick Macnee, in der britischen Erfolgsserie "Mit Schirm, Charme und Melone". (Aufnahme von 1965).
Die britische Schauspielerin Diana Rigg als Geheimagentin "Emma Peel" mit ihrem Partner John Steed, gespielt von Patrick Macnee, in der britischen Erfolgsserie "Mit Schirm, Charme und Melone". (Aufnahme von 1965). © picture-alliance / dpa / PA 118786
Von Michael G. Meyer · 07.12.2013
Britische Serien haben schon immer das Herz der Zuschauer, auch der deutschen, erwärmt: Bereits in den 70er-Jahren schaute man mit Begeisterung "Schirm, Charme und Melone" (The Avengers), "Das Haus am Eaton Place" (Upstairs, Downstairs) oder "Der Doktor und das liebe Vieh" (All Creatures Great and Small).
Im Gegensatz zu den meisten deutschen Produktionen ist den britischen Serien ihre Herkunft deutlich anzusehen: Sie thematisieren das Leben der adligen Gesellschaft (Downton Abbey) in einer Bewegung, die die Herrschaft mit der Dienerschaft verbindet und ihre Blicke sich kreuzen lässt.

Sie widmen sich Spionen und dem Geheimdienst "Mit Schirm, Charme und Melone" (The Avengers), "Die Profis" (The Professionals) oder dem Leben in sozialen Brennpunkten (Call the Midwife) oder setzen einen historischen britischen Stoff um (Robin Hood, Sherlock Holmes).

Was ist das Besondere an britischen Serien? Welches Bild zeichnen sie von Großbritannien, und was macht ihren Reiz aus? Nur ein Teil der Produktionen gelangt nach Deutschland - jene Serien, die besonders britisch sind, faszinieren uns offenbar am meisten.

Die "Lange Nacht" der britischen Serien taucht ein in die britische Fernsehwelt, wir besuchen das Schloss von "Downton Abbey" und spielen natürlich auch Musik aus den Serien. Frei nach dem Motto: "Mrs. Peel - wir werden gebraucht!"

"Das Haus am Eaton Place", "Simon Templar", "Mit Schirm, Charme und Melone", "Der Doktor und das liebe Vieh" oder "Die 2" - Deutschlands Fernsehzuschauer hingen kollektiv vor den Bildschirmen, als in den 70er-Jahren erstmals in größerem Stil britische Fernsehserien über den Kanal zu uns kamen.
Die Serien jener Jahre waren nicht frei von Klischees, im Gegenteil: Englische Herrenhäuser, der Fünf-Uhr-Tee, Adelsfamilien, Rolls-Royce - aber auch das Swinging London kamen in den Serien vor. Deutsche Zuschauer, aber nicht nur sie, liebten offenbar das Bild eines Englands, das eher der Tradition zugewandt war, denn der Moderne. Kaum eine andere Serie versinnbildlichte die Mischung aus Konvention und Fortschritt so sehr wie "Mit Schirm, Charme und Melone", im Original "The Avengers". Die beiden Figuren John Steed und Emma Peel (eine von mehreren weiblichen Mitspielerinnen von John Steed) personifizierten das England der sechziger und siebziger Jahre: eine Nation auf der Suche nach ihrer Zukunft: Technik, Computer, Frauenbewegung. Über diese Serie und andere wollen wir sprechen in der "Langen Nacht der britischen Fernsehserien".
Und heute? Nach einer gewissen Ruhephase sind die britischen Serien wieder voll auf der Höhe und können mit ihren amerikanischen Pendants mithalten: Die BBC-Serie "Sherlock" schaffte es, die über 100 Jahre alte Geschichte ganz neu zu interpretieren und auch andere alte Stoffe wie "Musketeers", oder "Robin Hood" sind heute als Serie in England erfolgreich. Sind die alten Dramen nicht totzukriegen und warum ist das so? Auch das "Upstairs, Downstairs" - Phänomen, Geschichte vom Adel und seinen Dienstboten, bewegen die Zuschauer: "Downton Abbey"(Foto), dessen zweite Staffel das ZDF in der Adventszeit zeigt, hat eine Fangemeinde rund um den Globus gefunden. In über 100 Ländern verfolgt man das Schicksal der Familie Crawley und deren Dienerschaft. In der Sendung besuchen wir das Schloss Highclere Castle, wo "Downton Abbey" gedreht wird, und das man zwei Monate im Jahr besuchen kann. Wir sprechen mit der Hausherrin Lady Fiona Carnavon, die mit distinguiertem Charme auch jede noch so große Journalistengruppe durch ihr Haus führt und gerne Fragen nach der Vergangenheit der Familie Carnavon beantwortet. Zwei Bücher hat sie mittlerweile darüber geschrieben. "Downton Abbey" - Autor Julian Fellows, ein Freund der Familie, war oft auf Highclere Castle zu Gast und ließ sich vom Schloss inspirieren.
Doch nicht nur die Vergangenheit beeinflusst Drehbuchautoren, die sich neue Serien einfallen lassen, auch die politische Realität von heute kann durchaus ganz hervorragende Produktionen hervorbringen. Schon 1990 produzierte die BBC eine Miniserie namens "House of Cards", in deren Mittelpunkt Francis Urquhart steht, eine fiktiver Strippenzieher der Konservativen Partei, gespielt von Ian Richardson. Die Serie, an dessen Ende er schließlich Premierminister wird, war hart, frech und böse - und animierte die Amerikaner für ein Remake. Warum gibt es gleich eine Reihe von guten britischen Politserien? Ist die britische Politik interessanter, ist sie extremer als die deutsche? Und wie sehen die Briten ihre Politiker, wenn sie in den Serien, auch in den Comedy-Serien, als abgebrüht, zynisch und durchtrieben dargestellt werden?
Über all das reden wir in der "Langen Nacht der britischen Fernsehserien". Mit Studiogästen, Beiträgen und mit Musik aus den "Fernsehperlen von der Insel". Machen Sie es sich bei einem Tee (oder einem Whisky) gemütlich.
Websites, Links, Buchtipp zu den Studiogästen:
Heike Hildenhagen ist die Autorin des Blogs "brittv.de"
Franziska Fischer
"Mrs. Peel - wir werden gebraucht!"
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Bertz + Fischer; Auflage: 4 (10. Juli 2009)
Die spannende Geschichte der legendären Krimiserie: Fakten, Hintergründe und Anekdoten, dazu Porträts der beiden Hauptdarsteller und ein ausführliches Verzeichnis aller 187 Episoden.
Links:

Ein glückliches Paar: Lord Grantham (Hugh Bonneville) und seine Frau Cora (Elizabeth McGovern), die Herrschaften von "Downton Abbey" in der gleichnamigen britischen Serie. Nur ein Sohn war ihnen nicht vergönnt.
Ein glückliches Paar: Lord Grantham (Hugh Bonneville) und seine Frau Cora (Elizabeth McGovern), die Herrschaften von "Downton Abbey" in der gleichnamigen britischen Serie. Nur ein Sohn war ihnen nicht vergönnt.© ZDF/ Nick Briggs
Besuch der Drehorte von Downton Abbey
Wer sich auf den Weg zu den Drehorten von "Downton Abbey" macht, muss Geduld und Zeit aufbringen - denn: Das Schloss, auf dem die Serie gedreht wird, ist eine Stunde westlich von London, im Landkreis Berkshire. Hier, wo die Wiesen noch grün, die Kühe noch glücklich und die Menschen noch glücklich sind, steht Highclere Castle. Das Schloss, Ende des 17.Jahrhunderts erbaut, war zunächst ein Bischofssitz und wurde 1839 umgebaut und erweitert.
Seit Jahrhunderten ist das Schloss im Besitz der Familie Carnavon - und da diese zum Teil heute noch darin lebt, öffnen sich die Pforten von Highclere Castle nur zwei Monate im Jahr - den Rest der Zeit müssen die Fans leider draußen bleiben. Der erste Eindruck: Trotz einer imposanten Kulisse ist das Schloss doch kleiner als man aus der Serie annehmen würde.
Ist man am Eingang angelangt, wird man vom Butler begrüßt, und links geht es ins Wohnzimmer, in den Salon, der original so aussieht, wie er auch in "Downton Abbey" gezeigt wird. Hier warten Kaffee, Tee und Plätzchen - außerdem zwei in grün gekleidete junge Ladys, die mit knallrotem Lippenstift und 40er-Jahre-Frisur Songs der Andrew Sisters intonieren. Die Stimmung: gelöst, man fühlt sich gleich wohl im Schloss - kein Vergleich mit den großen, kalten Hallen von Sanssouci oder Versailles. Wenige Minuten später kommt sie herunter: Fiona, die Duchess of Carnavon - zu deutsch: die 8. Herzogin von Carnavon. Fiona, eine Bürgerliche, eigentlich Fiona Aitken, hat vor 15 Jahren den Herzog geheiratet - und kümmert sich nun um den Besitz, der 400 Hektar Ländereien umfasst - wenn Fiona nicht gerade Besucher durchs Schloss führt, hat sie alle Hände voll zu tun - sie schreibt Bücher über die Familiengeschichte, schaut nach dem rechten in den familieneigenen Unternehmen und hat einen Sohn mit dem Herzog. Seit einigen Jahren wird nun in jedem Frühjahr hier "Downton Abbey" gedreht - doch nicht etwa wegen des Geldes?
Fiona, die Duchess of Carnavon: "Nein, unsere Berater haben gesagt, es ist gutes Marketing, und das haben wir befolgt - und jetzt sind Sie alle hier.... Was in den letzten Jahren passiert ist, ist ganz wunderbar - aber ich bin eigentlich stolz auf die reale Familiengeschichte. Ich habe zum Beispiel ein Buch geschrieben über Almina, die 5.Herzogin von Carnavorn. Egal, in welchem Land sie lebte, welche Sprache sie gerade sprach - sie hat immer das Leben der Leute sehr bereichert. Ich habe das mit sehr viel Leidenschaft geschrieben, denn es gab nicht viele Menschen damals, die das getan haben, was sie tat. Sie empfing Fremde, die krank waren - es war ein sehr christlicher Akt der Großzügigkeit, das zu tun. Ihre Fähigkeit, anderen zu helfen, war phänomenal."
Nach und nach wird der Raum immer voller - auch wenn dieser Tag ausschließlich den Journalisten aus aller Welt gewidmet ist, bleibt Fiona immer nett und freundlich. Sie erzählt noch lange von den Veränderungen, die das Haus durchmachte - etwa, dass die Klassengesellschaft in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg unwiederbringlich erschüttert wurde:
"In England hat man danach eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Ich denke, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Klassensystem vorbei, für immer. Beispielsweise konnten sich die Adligen oft keine Angestellten mehr leisten. Und dann trat Churchill ab, es wurde der National Health Service eingeführt, die Pensionen, dass man sich um Menschen gekümmert hat, das war ja in vielen Ländern so."
Die Führungen selbst übernimmt sie nicht, dafür gibt es rund ein Dutzend Freiwillige aus dem nahegelegenen Dorf Newbury, eine davon ist Rosemary, eine ehemalige Lehrerin.
Rosemary: "Die alte Lady führt kompetent durchs ganze Haus, durch das Lesezimmer, Musikzimmer und hoch in die vielen kleinen Räume, wo sich die Ladyschaften umzogen, aßen, lasen und badeten. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen über das Haus, die Familie und was sich hinter den Mauern des Schlosses Highclere Castle abspielte. Doch dazu befragen wir lieber Lady Fiona selbst, die sich für Einzelgespräche ins Umkleidezimmer zurückgezogen hat."
Helles Sonnenlicht strahlt durch die großen Fenster, Lady Fiona, oder besser "Lady C", wie sie von ihren Angestellten genannt wird, sitzt auf einem weißen Sofa, das mit Rosenmotiven bedruckt ist, und in das man tief hinuntersackt. Sie selbst hat einen violetten Pullover an, ist leicht untersetzt und hat blondgefärbte Haare. Sie wirkt eher wie eine begüterte englische Hausfrau, denn wie eine Schlossherrin. Mit dem Riesenerfolg der Serie "Downton Abbey" habe sie und ihr Mann niemals gerechnet, erzählt Fiona Carnavon:
Fiona Carnavon: "Wir dachten anfangs, das sei einfach nur eine Fernsehserie. Emma, die Frau des Drehbuchautors Julian Fellows hatte mich gewarnt, dass er etwas plant. Er hat hier mehrmals übernachtet und sagte mir, dass er Highclere Castle im Sinn hatte, als er die Serie schrieb. Er wusste also, wo das Personal schlief, wo es eintrat und hinausging - ich denke, er war wirklich beeindruckt von dem Schluss, das sagte er oft. Wir hoffen, irgendjemand würde das gucken, das hofften wir, und nun ist es dieses große Ding geworden, nicht wahr? (lacht)
Wenn man sich das heutige Fernsehen ansieht, war der Erfolg doch auch sehr unwahrscheinlich. Da gibt es eher CSI, es geht um Mord und Totschlag, um Inspektor Morsant, der ermittelt und aufklärt, oder diese ganzen Serien, in denen Forensiker mitspielen - und da kommt nun ein Kostümdrama daher, über eine Aristokratenfamilie vor hundert Jahren. Wenn man mir das vorgestellt hätte, hätte ich nicht gesagt: Jaaaaa, das machen wir sondern eher: Mmm ...erzähl mir mehr. Aber es ist vielleicht nicht so offensichtlich, ich denke, es war eine sehr mutige Entscheidung der Produzenten."
Bei aller Begeisterung für die Serie: Ganz realistisch findet Fiona Carnavon "Downton Abbey" nicht, dafür sei es doch, soweit sie wisse, im Schloss etwas anders zugegangen:
Fiona Carnavon: "Darum habe ich Almina geschrieben, mein zweites Buch, denn ich sitze nicht den ganzen Tag herum und trinke Tee, das tue ich zwar manchmal (lacht) aber nur nebenbei. Aber Almina war eine Frau, die sich wirklich gekümmert hat. Und ich wollte auch über den Ersten Weltkrieg schreiben, denn das hat mich immer schon interessiert. Mich haben auch literarische Umsetzungen des Themas interessiert, auch die deutschen Romane, etwa "Im Westen nichts Neues", ich mochte es sehr, unsere Familiengeschichte mit den Ereignissen zu verweben, etwa den Schlachten, die wir alle noch in der Schule gelernt haben. Und in einem Buch kann man ja auch komplexer sein, als in einem Kostümdrama, einer Serie, in jeder Beziehung. Man muss es vereinfachen, damit die Leute dranbleiben, während man im Buch komplexere Themen ansprechen kann. Etwa die Entwicklung neuer Medikamente, das war spannend, die Deutschen waren damals ja viel weiter, auch in der Hirnchirurgie, das war faszinierend, erschreckend, und doch lernte man so viel damals. Ich wollte also darüber schreiben, was wirklich geschah, gewissermaßen war das mein Ansporn. "
Fiona Carnavon ergänzt noch, dass ihr das Aristokratenleben gar nicht so gefalle, jedenfalls nicht so, wie es in der Serie "Downton Abbey” porträtiert wird. Zwar hat sie 80 Angestellte, aber sie striegelt durchaus selbst gerne mal die Pferde oder betätigt sich im Garten. Sie möchte nicht, dass das Haus "Highclere Castle" sie beherrsche, sondern sie wolle die Oberhand behalten.
"Hier spielen wir alle eine Rolle, hierhin kommen unsere Freunde. In London rufe ich ganz einfach den Friseur an und frage ihn, wann er mir die Haare schneiden kann, es ist ganz dringend. Ich denke, in der heutigen Welt muss man sich den Respekt erarbeiten, das musste ich auch bei unseren Angestellten, das gehört einfach dazu. Aber in London ist es so, dass George und ich ein anderes Spiel spielen als es unsere Vorfahren taten."
Ein Tipp für jene, die selbst mal zum Highclere Castle wollen:
Hier wird eine spezielle Tour zu den Drehorten von "Downton Abbey" angeboten.
"Call the Midwife"
Serien über Mediziner waren schon immer ein großer Erfolg: In den siebziger Jahren operierte "Quincy" aka Jack Klugman, später war "Emergency Room" ein großer Hit - und nun kommt eine Serie aus England zu uns, deren Anmutung ganz anders ist: Die Protagonistinnen sind ausschließlich Hebammen. Und das in den fünfziger Jahren. "Call the Midwife - Ruf des Lebens" ist eine liebesvoll gemachte Serie der BBC, die zu einer der erfolgreichsten Serien der letzten Jahre avancierte - bei der Einschaltquote sogar noch vor "Downton Abbey". Nun erscheint "Call the Midwife" auf DVD, und Michael Meyer stellt die Serie vor.
Jenny Lee: "Ich muss verrückt gewesen sein, ich hätte Stewardess werden können oder auch Mannequin. Ich hätte nach Paris gehen können oder mich als Pianistin verwirklichen, ich hätte die ganze Welt sehen können, mutig meinem Herzen folgend. Aber ich tat es nicht: Ich stellte die Liebe hintenan und zog ins East End von London. Weil ich dachte, das wäre leichter. Ich war verrückt, das ist die einzige Erklärung. "
Jenny Lee ist eine junge hübsche Frau, die als Hebamme in einem Schwesternheim anfängt. Ihr Arbeitsplatz: Die heruntergekommene Gegend des Londoner East End in den 50er-Jahren. In diesem Viertel, nahe den Docks, ist die Armut mit Händen greifbar. Schwangere leiden an Syphilis, die Männer trinken und schlagen ihre Frauen, und in einer Episode ist eine Frau zum 25. Mal schwanger, und das trotz der extremen Armut, in der die Familie lebt. Jenny weiß von all diesen Umständen nichts, als sie erstmals ins "Nonnatus House" kommt, ins Schwesternheim. Und sie weiß auch nicht, dass das Heim von Nonnen geführt wird:
Jenny Lee: "Ich dachte, es sei ein kleines Privatkrankenhaus.. Ich hoffe doch, Sie laufen nicht wieder davon. Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, Schwester Lee? Nicht direkt, ich bin in der Church of England. Wir sind auch Anglikaner. Die Religionsausübung ist allein Ihre Sache. Wir tragen die Ordenstracht, Sie Ihre Schwesterntracht. Wir sind in erster Linie Krankenschwestern, und vor allem Hebammen."
Was von nun an auf sie zukommen wird, sprengt die Vorstellungskraft der jungen Frau, die aus behüteten Verhältnissen in eine Welt versetzt wird, wie sie Charles Dickens beschrieben haben könnte. Die Frauen der Hafenarbeiter leben in widrigsten Umständen: Die Pille gab es noch nicht, das Kondom war noch nicht weit verbreitet - und überhaupt: Sexualaufklärung war in den prüden fünfziger Jahren eine heikle Angelegenheit. Junge Mütter kichern während einer Aufklärungsstunde verlegen. Jenny nimmt all das mit stoischer Gelassenheit - meistens jedenfalls:
" Schwester, ist das die Nachgeburt? Nein, das Baby ist noch nicht da. Ah, macht ja nichts. Nur, wenn Sie mit allem fertig sind, hätte ich die Nachgeburt gerne für den Garten. Oh? Bekommt meinen Tomaten ganz prächtig."
Doch "Call the Midwife" wühlt nicht nur in den Niederungen der armen Mütter, die Serie widmet sich auch dem Schicksal der Hebammen. Jennys Kolleginnen sind allesamt starke Charaktere. Da wäre die kleptomanische ältere Nonne, die leicht verwirrt ist, und für ihr Leben gerne Kuchen und Süßigkeiten isst - während sie Texte von Keats und Shakespeare zitiert. Eine Hebamme, die etwas groß und unförmig geraten ist, muss erst mal Fahrradfahren lernen und sich mit den Verhältnissen arrangieren. Außerdem verspotten sie die anderen für ihren heftigen Akzent. Und dann sind da noch die vielen liebevoll gezeichneten Charaktere der Arbeiter und Mütter - jene Menschen, die die Nonnen betreuen. Im Original ist der Klassenunterschied noch besser zu hören, denn die "Blue-Collar-Worker", die Hafenarbeiter, sprechen ein krasses Cockney-Englisch. Jenny Lees Erinnerungen am Anfang und am Ende jeder Folge werden im Original von Vanessa Redgrave gesprochen.
Jennys Reise in menschliche Abgründe steht an einigen Stellen kurz vor dem Ende - denn Jenny kann die Umstände, in denen die Menschen leben kaum fassen:
"Wie können Sie so ruhig bleiben? Als ich neu in der Schwesternbereitschaft war, fand ich es oft schwer, all meinen Ekel zu unterdrücken. Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass Menschen so leben. Aber es ist so, und deshalb sind wir hier."
"Call the Midwife" ist nicht einfach ein weiteres Kostümdrama, zumal die Kostüme und die Ausstattung auch nicht so opulent sind, schließlich sind wir hier nicht im "Downton Abbey", sondern im Hafenviertel von London. Dennoch setzt die Serie natürlich auf eine gewisse Faszination für die Zeit, als viele Dinge noch einfacher strukturiert schienen, als heute: Der Mann war noch ein ganzer Kerl, die Mütter gingen in ihrer Mütterrolle auf.
Jedoch wäre es unfair, wenn man der Serie attestieren würde, sie würde ihre Charaktere nicht auch differenziert darstellen: Jenny etwa ist zuweilen erstaunt über die andauernde Leidenschaft ihrer Kolleginnen für ihren Job:
"War es schwer für dich, als du hier angefangen hast? Ich dachte, ich hätte jede Menge Orden verdient. Immer Nachtdienst, meilenweit Rad fahren, eine ganze Wand voller Ehrungen, zu jeder Malzeit, und dann wurde mir etwas klar: Ich hatte überhaupt keine Auszeichnung verdient. Die Mütter sind die Tapferen. Ein Baby nach dem anderen, unter furchtbaren Bedingungen und sie halten durch. Sie sind die Heldinnen, ich bin nur hier, um zu helfen."
Die Serie, die auf den Erinnerungen von Jennifer Worth beruht, - die echte Hebamme starb 2011 - ist in ihrer Anmutung ungemein britisch. Denn zwischen den Zeilen vermittelt die Serie auch: Wer einmal in den Docklands von London aufgewachsen ist, der kommt da nie wieder raus. Einmal East End, immer East End. Großbritannien - deine Klassengesellschaft. Und "Call the Midwife" bildet diese Ausweglosigkeit ab. Jedoch führen die Macher der Serie ihre Figuren nie vor: Die Charaktere sind Produkte ihrer Umwelt - und die war damals hart und zuweilen grausam.
In Großbritannien haben die Zuschauer die Serie auf Anhieb geliebt - in eine längst vergangene Welt einzutauchen interessierte viele Zuschauer, mittlerweile ist "Call the Midwife" auch in die USA, nach Australien und viele andere Länder verkauft.
Und Jenny Lee? Die lebt sich zunehmend besser ein in ihr neues Umfeld und lernt, mit den Gegebenheiten zu leben:
Ich hatte erlebt, wozu Liebe in der Lage ist...Liebe brachte Leben in die Welt und zwang Frauen in die Knie. Liebe konnte Herzen brechen und retten. Liebe war wie Geburtshilfe, der Atem des Lebens. Und ich lernte allmählich damit zu fliegen. Durch die Straßen wie der Fluss ins Meer.
"Call the Midwife - Ruf des Lebens", die erste Staffel, ist gerade bei Universal Home Video erschienen.
Jennifer Worth
Call the Midwife - Ruf des Lebens
Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End.
Mit kostenlosem E-Book inklusive. Call the Midwife.
2013 Edel Germany
Die Lebenserinnerungen der Londoner Hebamme Jennifer Worth. Das Londoner East End in den späten 50er Jahren: ein armes Arbeiterviertel voller vielköpfiger Familien auf viel zu wenig Raum, gescheiterter Existenzen, Trinkern und Prostituierten. Der jungen Hebamme Jennifer ist diese Welt fremd sie muss erst lernen, Geburten unter einfachsten Bedingungen, oft ohne fließendes Wasser durchzuführen. Doch das Viertel und die Menschen, die sie trifft, wachsen ihr ans Herz. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer. Jede Familie, der sie beisteht, hat eine andere Geschichte, ein anderes Schicksal. Unterhaltsam, bewegend - nicht selten auch erschütternd - aber auch herzerwärmend sind die Erzählungen der Hebamme, die eine fast vergessene Zeit wieder lebendig werden lassen.