Unvorstellbarer Horror

Rezensiert von Geseko von Lüpke |
Am 6. August jährt sich der Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima zum 60. Mal. Der englische Autor Stephen Walker zeichnet in seinem Buch "Hiroshima. Countdown der Katastrophe" die letzten Wochen vor der Zerstörung Hiroshimas nach und stellt in minutiösen Berichten die wissenschaftliche Logistik des Tötens der Ahnungslosigkeit der Opfer vor und ihrem Schrecken nach der Detonation der Bombe gegenüber.
Es schien auf dem deutschen Sachbuchmarkt bislang ein merkwürdiges Tabu über diesem großen Thema zu liegen, das zugleich ein Historienstück, ein Stück Kriegsliteratur, ein entscheidendes Kapitel Wissenschaftsgeschichte, vor allem aber ein ungeheures Kriminalstück mit einer Prise Frankenstein-Horror umfasst: der Abwurf der ersten Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima, der sich morgen zum 60. Mal jährt. Ein Tabu, das möglicherweise damit zusammenhängt, dass Deutschland der atomaren Hölle, die in Hiroshima und Nagasaki sichtbar wurde, nur knapp entging. Als in der Wüste von New Mexico, drei Wochen vor der Zerstörung von Hiroshima, die erste Atombombe gezündet wurde, war der Krieg in Europa gerade mal zwei Monate vorbei.

"Ein glühender, immer größer werdender Feuerball ging wie eine zweite Sonne über der Wüste auf und versetzte jeden in Schrecken, der ihn sah. In der ersten Millisekunde glich er etwas gespenstisch außerirdischem, einem riesigen gehirnförmigen Gebilde mit auffliegenden Feuerzungen, das den Himmel zerfetzte. Der grelle Blitz, der tausendmal heller war als die Sonne, tauchte die Berge und die Wüste in eine Klarheit und Schönheit, die keiner der Augenzeugen je vergessen sollte."

Stephen Walker, der englische Autor des jüngst bei Bertelsmann erschienen Buches "Hiroshima. Countdown der Katastrophe" ist als hauptberuflicher Filmemacher ein "Augenmensch". Und seine durchgehend fesselnde Chronik der Ereignisse zwischen dem 16. Juli und dem 6. August 1945 liest sich nicht selten wie ein Drehbuch. Beginnend mit den letzten Tagen vor dem ersten Atomtest und endend mit der 140.000 Todesopfer fordernden Zerstörung Hiroshimas ist es kennzeichnet von harten Schnitten. Immer wieder konfrontiert der minutiöse Bericht die nüchterne Hybris von Wissenschaftlern und Militärs, die einer perfekten Logistik des Tötens folgend verbissen daran arbeiteten, die Urkräfte des Universums auf Erden zu entfesseln, mit der Ahnungslosigkeit der Opfer vor und ihrem Schrecken nach der Detonation der Bombe über Hiroshima. Doch der nüchterne Blick auf die Realitäten ist alles andere als kalt. Denn mit Berichten von den letzten Augenzeugen wie der Überlebenden Miyoko Matsubara gelingt es dem Autor, den unvorstellbaren Horror in seiner traumatischen Tiefe aus der kollektiven Verdrängung zu befreien.

"Ich blickte hoch zu dem Flugzeug, aus dem die Atombombe fiel, und hielt die Hand schützend über die Augen, weil die Sonne so blendete. (...) Und plötzlich war da ein großer, riesiger Feuerball, der sich donnernd in alle Richtungen ausdehnte. Im selben Moment war ein ohrenbetäubendes Brüllen in der Luft, das bis in die Eingeweide der Erde hinunter reichte.

Ich konnte überhaupt niemand sehen, denn überall war schwarzer Rauch. Es war sehr dunkel, man sah erst gar nichts. Die Menschen, denen ich dann begegnete, waren alle fast nackt und sahen aus, wie Gestalten aus einem Horrorfilm. Sie hielten alle die Arme ausgestreckt vor sich, ihre Haut hing in langen Fetzen vom Körper herunter. Ihr Haar stand senkrecht vom Kopf weg, und alle schrieen und klagten. Immer wieder der Ruf: "Oh Mama, Mutter hilf mir, hilf mir!" Und unten am Fluss war dies Stöhnen."

Stephen Walker schafft erstaunliches. Er entzieht sich in seinem Bericht über diese Katastrophe, die alle Vorstellungen und ethischen Regeln sprengte, jeglicher Wertung. Weil er nur den Countdown des Grauens ablaufen und die betroffenen Menschen zu Wort kommen lässt, formen sich die Bilder und Gefühle im Leser selbst. Er wird – wie wohl auch der Autor - hin- und hergerissen zwischen der oftmals schon theologischen Faszination der entfesselten kosmischen Gewalten und dem fast voyeuristischen Blick in die Hölle auf Erden. Gepackt von der logistischen Kälte des Massenmords und bis in die Tiefe berührt von der fast schon blasphemischen Verantwortungslosigkeit der Täter.

US-Präsident Harry Truman: "Der Einsatz war keine große Entscheidung, jedenfalls keine, die einem Kopfzerbrechen bereitete. Wenn man mit einer Bestie zu tun hat, muss man sie wie eine Bestie behandeln."

Stephen Walkers Buch ist mehr als ein Stück Zeitgeschichte. Es könnte aktueller nicht sein. Denn die ungeschriebenen Gesetze des Gleichgewichts des Schreckens, das sich nach dem ersten Einsatz der Atombombe bildete, sind nach dem Zusammenbruch der UdSSR längst Makulatur. Nach wie vor lagern nicht nur 13.000 atomare Gefechtsköpfe in den weltweiten Waffenarsenalen. Auch die atomaren Gelüste der nord-koreanischen und iranischen Diktatoren, die unverhohlenen Drohungen der USA mit einem atomaren Präventivschlag gegen den Iran, das Gerede chinesischer Generäle über ein Atomkrieg mit den USA, bis hin zum blühenden Schwarzmarkt mit waffenfähigem Uran lassen ahnen, dass der "Countdown der Katastrophe" längst schon wieder angezählt wird. Deshalb ist Steven Walkers Buch ein kulturelles Stück Geschichtsbearbeitung, das – ohne es zu formulieren – eigentlich etwas will, was die Augenzeugin Moyiko Matsubara so formuliert:

" We don’t want any nuclear wepaon no more."

Stephen Walker: Hiroshima. Countdown der Katastrophe
Aus dem Englischen von Harald Stadler
Bertelsmann, München 2005
399 Seiten, 19.90 Euro