Unverstellter Blick auf die einfachen Menschen
Die Ausstellung "Nahsicht. Käthe Kollwitz - Heinrich Zille”, die in den Kunstsammlungen Böttcherstraße in Bremen 120 Arbeiten der beiden Künstler versammelt, widmet sich zwei besonderen Facetten ihrer Werke: Erstmals wird das selten gezeigte zeichnerische Frühwerk von Käthe Kollwitz konfrontiert mit den zur selben Zeit entstandenen Fotografien Heinrich Zilles.
Immer wieder zeichnet Käthe Kollwitz sich selbst, experimentiert mit Licht und Schatten, der freien Form. So zeigt ein schmales Hochformat ein junges Mädchen, dass sich an den Kragen greift und den Betrachter direkt ansieht. Das Gesicht ist altmeisterlich genau herausgearbeitet, anderes nur angedeutet. Darunter, auf einem schmalen Reststreifen des Blattes, legt dasselbe Mädchen sein Gesicht in die Hand.
Dieses doppelte Selbstbildnis entstand 1892. Da war Käthe Kollwitz 25 Jahre alt und bereits eine großartige Zeichnerin. Aber, so betont Ausstellungsleiter Rainer Stamm, noch auf der Suche nach einem eigenen Stil.
"Es ist bei den Künstlern - und vor allem den Künstlerinnen, die ja auch nicht so auf Modelle zugreifen konnten wie die männlichen Kollegen - auch ein ganz faszinierendes Phänomen, dass der große Experimentierreichtum ganz häufig bei den Porträts einsetzt: Bei den Selbstporträts ist man mit sich alleine. Das Modell ist geduldig, weil: es ist sie selbst. Und da sehen wir wirklich Käthe Kollwitz am Ausprobieren von bildnerischen Mitteln. Ob das mit der Radiernadel ist, oder mit dem Zeichenstift, oder der schwarzen Tusche."
Käthe Kollwitz' großes Thema sind die Unterdrückten ihrer Zeit. Die 60 Blätter, die zwischen den späten 1880er-Jahren und 1910 entstanden, veranschaulichen eindrucksvoll, wie mühsam sie um ihre später berühmten Bildthemen und -formen rang. Anfänglich skizziert sie ihre nächste Umgebung: Mann, Kinder, sich selbst. Im Lauf der Jahre verdichten sich bestimmte Personen, Haltungen und Gesten zu Topoi, es entsteht ein Fundus, aus dem Kollwitz ihre großen Bildthemen entwickelt: die schwangere Arbeiterfrau, das hungrige Kind, die zum Widerstand sich aufrichtende Frau als Sinnbilder für Knechtung, Verzweiflung, Aufbegehren.
"Aber in dieser Ausstellung stoppen wir eigentlich die Auswahl dieser Werke da, wo sich die Werke zu diesen gültigen Kompositionen zusammensetzen. Wir wollen wirklich die Käthe Kollwitz der Nahsichtigkeit zeigen, dort, wo sie sammelt, wo sie aufnimmt, was sie später umsetzt und als potenzial für ihre Lithografien und dann auch propagandistischen Blätter benutzt."
Ein Dienstmädchen eilt die Straße entlang. Jungen toben im Schwimmbad. Alte Frauen sammeln Reisig am Stadtrand. - Heinrich Zille zeigt gleichfalls die einfachen Leute. Nicht nur in oft humoresk-süßlichen Karikaturen, sondern auch mit der Kamera. Zille, 1858 geboren und 1929 gestorben, lernte das Fotografieren während seiner Ausbildung zum Werbegrafiker. Seine Vintageprints entdeckte man erst Mitte der 60er-Jahre. 60 dieser selten gezeigten Arbeiten hängen nun zwischen den Kollwitz-Zeichnungen.
"Wir zeigen Heinrich Zille nur als Fotografen ..., als Stadtflaneur in Berlin um 1900, der ganz unbefangen mit seiner Kamera die eigene Familie einfängt, aber eben auch die merkwürdigen Zwischenräume in Berlin: Brachen, Wäscheplätze, Müllkippen, die Ränder der Stadt. Also das, was eben eigentlich nicht das im klassischen Sinne Fotografierenswerte einer Großstadt ist, nicht 'Unter den Linden' oder kaiserliche Bauten, sondern das andere Berlin."
Man erlebt ein Berlin im Umbruch: Bretterzäune versperren die Sicht auf Baugruben. Mehrstöckige Mietskasernen fressen sich in das Brachland am Stadtrand. Mit einer Momentkamera zieht Zille durch die Arbeiterviertel und hält Alltagsszenen fest. Wenn er zum Beispiel Frauen auf einem Markt fotografiert, geschieht dies so schnell, dass die Häuser im Hintergrund aus der Horizontalen rutschen, die Röcke der Frauen verwischen, einmal klebt sogar noch sein Finger auf der Linse.
Rainer Stamm: "Er tut dadurch quasi etwas, was er noch gar nicht tun konnte kulturgeschichtlich: Er macht nämlich so etwas wie Street Photography. ... Aber er selbst hat diese Fotografien nie gezeigt, er hat sie nie ausgestellt, sondern wirklich wie ein Skizzenbuch für sich behalten. Und erst Jahrzehnte nach seinem Tod, als auch die Anerkennnung der Fotografie sich so weit gewandelt hat, dass man einen Blick für diese Art der Fotografie oder fotografischen Ästhetik hatte, hat man auch Zilles Fotografien erst entdecken können."
Die Ausstellung "Nahsicht" ermöglicht damit gleich mehrere Einsichten: Sie verdeutlicht, wie mühsam Kollwitz um ihre Vorstellung von Kunst rang. Sie zeigt, wie konsequent Kollwitz und Zille ihr Gegenüber von gleich zu gleich anblickten. Und dass diese lebensnahe, realistische Haltung keinen Platz lässt für Sentimentalität oder Verklärung.
Dieses doppelte Selbstbildnis entstand 1892. Da war Käthe Kollwitz 25 Jahre alt und bereits eine großartige Zeichnerin. Aber, so betont Ausstellungsleiter Rainer Stamm, noch auf der Suche nach einem eigenen Stil.
"Es ist bei den Künstlern - und vor allem den Künstlerinnen, die ja auch nicht so auf Modelle zugreifen konnten wie die männlichen Kollegen - auch ein ganz faszinierendes Phänomen, dass der große Experimentierreichtum ganz häufig bei den Porträts einsetzt: Bei den Selbstporträts ist man mit sich alleine. Das Modell ist geduldig, weil: es ist sie selbst. Und da sehen wir wirklich Käthe Kollwitz am Ausprobieren von bildnerischen Mitteln. Ob das mit der Radiernadel ist, oder mit dem Zeichenstift, oder der schwarzen Tusche."
Käthe Kollwitz' großes Thema sind die Unterdrückten ihrer Zeit. Die 60 Blätter, die zwischen den späten 1880er-Jahren und 1910 entstanden, veranschaulichen eindrucksvoll, wie mühsam sie um ihre später berühmten Bildthemen und -formen rang. Anfänglich skizziert sie ihre nächste Umgebung: Mann, Kinder, sich selbst. Im Lauf der Jahre verdichten sich bestimmte Personen, Haltungen und Gesten zu Topoi, es entsteht ein Fundus, aus dem Kollwitz ihre großen Bildthemen entwickelt: die schwangere Arbeiterfrau, das hungrige Kind, die zum Widerstand sich aufrichtende Frau als Sinnbilder für Knechtung, Verzweiflung, Aufbegehren.
"Aber in dieser Ausstellung stoppen wir eigentlich die Auswahl dieser Werke da, wo sich die Werke zu diesen gültigen Kompositionen zusammensetzen. Wir wollen wirklich die Käthe Kollwitz der Nahsichtigkeit zeigen, dort, wo sie sammelt, wo sie aufnimmt, was sie später umsetzt und als potenzial für ihre Lithografien und dann auch propagandistischen Blätter benutzt."
Ein Dienstmädchen eilt die Straße entlang. Jungen toben im Schwimmbad. Alte Frauen sammeln Reisig am Stadtrand. - Heinrich Zille zeigt gleichfalls die einfachen Leute. Nicht nur in oft humoresk-süßlichen Karikaturen, sondern auch mit der Kamera. Zille, 1858 geboren und 1929 gestorben, lernte das Fotografieren während seiner Ausbildung zum Werbegrafiker. Seine Vintageprints entdeckte man erst Mitte der 60er-Jahre. 60 dieser selten gezeigten Arbeiten hängen nun zwischen den Kollwitz-Zeichnungen.
"Wir zeigen Heinrich Zille nur als Fotografen ..., als Stadtflaneur in Berlin um 1900, der ganz unbefangen mit seiner Kamera die eigene Familie einfängt, aber eben auch die merkwürdigen Zwischenräume in Berlin: Brachen, Wäscheplätze, Müllkippen, die Ränder der Stadt. Also das, was eben eigentlich nicht das im klassischen Sinne Fotografierenswerte einer Großstadt ist, nicht 'Unter den Linden' oder kaiserliche Bauten, sondern das andere Berlin."
Man erlebt ein Berlin im Umbruch: Bretterzäune versperren die Sicht auf Baugruben. Mehrstöckige Mietskasernen fressen sich in das Brachland am Stadtrand. Mit einer Momentkamera zieht Zille durch die Arbeiterviertel und hält Alltagsszenen fest. Wenn er zum Beispiel Frauen auf einem Markt fotografiert, geschieht dies so schnell, dass die Häuser im Hintergrund aus der Horizontalen rutschen, die Röcke der Frauen verwischen, einmal klebt sogar noch sein Finger auf der Linse.
Rainer Stamm: "Er tut dadurch quasi etwas, was er noch gar nicht tun konnte kulturgeschichtlich: Er macht nämlich so etwas wie Street Photography. ... Aber er selbst hat diese Fotografien nie gezeigt, er hat sie nie ausgestellt, sondern wirklich wie ein Skizzenbuch für sich behalten. Und erst Jahrzehnte nach seinem Tod, als auch die Anerkennnung der Fotografie sich so weit gewandelt hat, dass man einen Blick für diese Art der Fotografie oder fotografischen Ästhetik hatte, hat man auch Zilles Fotografien erst entdecken können."
Die Ausstellung "Nahsicht" ermöglicht damit gleich mehrere Einsichten: Sie verdeutlicht, wie mühsam Kollwitz um ihre Vorstellung von Kunst rang. Sie zeigt, wie konsequent Kollwitz und Zille ihr Gegenüber von gleich zu gleich anblickten. Und dass diese lebensnahe, realistische Haltung keinen Platz lässt für Sentimentalität oder Verklärung.