Unverhüllt

Von Florian Felix Weyh |
"Wir gestalten für Sie eine CD-ROM mit Filmsequenzen und animierte 3-D-Bilder inklusive Farbausdruck auf hochwertigem Fotopapier", schreibt die geschäftstüchtige Frauenärztin auf ihrer Webseite. Diese kostenpflichtige "individuelle Gesundheitsleistung" - die Krankenkassen bezahlen sie nicht – ist im Volksmund unter dem Begriff "Babyfernsehen" bekannt und erfreut sich größerer Beliebtheit bei jungen Eltern der visuellen Generation. Seit etwa zehn Jahren gibt es 3-D-Ultraschallgeräte, die den ungeborenen Nachwuchs in einer plastischen Fruchtwasser-Peepshow präsentieren.
"Babyfernsehen" – dem Begriff wohnt genau jene Respektlosigkeit inne, die den Vorgang kennzeichnet – zählt zu unserer Entertainment-Kultur. Unter Fachleuten ist der medizinische Mehrwert umstritten, deswegen verweigern die Krankenkassen auch, ihr Scherflein beizusteuern.

Interessanterweise haben die Gerätehersteller, die zuerst den Sicherheitszuwachs priesen, – nämlich fötale Fehlbildungen präziser als zuvor zu erkennen – sehr schnell auf die eigentliche Zielgruppe fokussiert: Es geht nicht mehr darum, vor etwaigen Gefahren zu warnen, sondern darum, an den Elternstolz zu appellieren. Das bringt Geld!

Kommt das jemandem bekannt vor? Erinnert es an Schlagzeilen der vergangenen Tage? Unternehmen wir folgendes Gedankenexperiment: An jedem Flughafen stehen zwei Körper- oder Nacktscanner. Technisch sind beide identisch, bloß ein kleines Detail unterscheidet sie: Die Ergebnisse des einen Scanners bekommen nur die Sicherheitsleute zu Gesicht, und niemand weiß, was sie da so sehen.

Die Ergebnisse des anderen werden hingegen allen Interessierten am Gate lebensgroß auf einem Bildschirm dargeboten. Wo wird sich wohl die längere Schlange versammeln? Stellt sich am diskreteren Scanner überhaupt jemand an?

Wir leben in einer voyeuristischen wie exhibitionistischen Gesellschaft. Beides ergänzt sich hervorragend: Ausgelebte Bedürfnisse der einen Seite erfüllen automatisch die Wünsche der anderen, und gewöhnlich tragen Menschen beide Facetten im Leib.

So wird die rührende Annahme der Datenschützer, die aus dem 19. Jahrhundert mit seinen Schamkorsetten stammt, der Mensch wolle Herr über seine Intimsphäre bleiben, täglich millionenfach widerlegt, vom Internet bis zum FKK-Strand. Ohne jede Nötigung geben sich Menschen ständig in Wort und Bild preis, und der Streit über die "Nacktscanner" scheint eine jener Phantomdebatten zu sein, die nur beweist, dass Journalisten genauso abgetrennt von der Bevölkerung leben wie die Politiker. Einer Mehrheit der Deutschen ist laut Umfragen die Aufregung ums Durchleuchtetwerden ziemlich schnurz, und die in vielen Kommentaren heraufbeschworene soziale Komponente hinkt der Zivilisationsentwicklung wohl ein paar Generationen hinterher.

Thomas Manns Tochter Monika, eine kluge Essayistin, hat dazu einen schönen Satz geschrieben: "Scham ist der Triumph gesellschaftlicher Abhängigkeit: Mein Erröten über ein Loch im Strumpf bürgt dafür, dass ich als ein soziales Wesen geboren bin."

Das war damals, als es noch positiv schien, Teil eines übergeordneten Ganzen zu sein. Heute verrät Monika Manns Beobachtung das schiere Gegenteil, warum wir uns nämlich weder für die Löcher in unseren Strümpfen, noch für entlarvende Fotos auf Facebook, noch für unsere deformierten Körpermassen am FKK-Strand schämen: Narzisstische Individualisten, die wir längst alle geworden sind, schreckt uns gesellschaftliche Abhängigkeit mehr als jeder Schutz, den gemeinsame Schamgrenzen auch bieten könnten.

So werden wir uns – zurück zum Gedankenexperiment – ganz sicher bei der langen Schlange des Nacktscanners anstellen, dort wo alle alles sehen können, und uns stolz noch einmal um die eigene Achse drehen: Nur das beweist wahre Autonomie!

Und der Sicherheitsaspekt? Der ist, notabene, ziemlich nebensächlich. Terroristen sitzen immer am längeren Hebel, weil ihre Einfallskraft durch keinerlei Skrupel gebremst wird. Sobald die erste Herzschrittmacher-Bombe entwickelt ist, stellt sie die alte Frage neu: Wäre es nicht konsequent, ganz ohne Passagiere zu fliegen?


Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin© Katharina Meinel