Unterwegs mit einem Nachlassverwerter

Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt?

Ein Deckchen zwischen Holzsplittern und Schrauben
Ein Deckchen zwischen Holzsplittern und Schrauben © Deutschlandradio / Stephan Morgenstern
Von Anna Corves und Stephan Morgenstern  · 26.12.2016
Wenn ein Mensch stirbt, dann bleiben die Erinnerungen. Ganz praktisch aber auch sein Hab und Gut. Und das muss irgendwann aufgeräumt werden. Einblicke in die Arbeit eines Nachlassverwerters.
Die Tür schließt, man steht in einem fremden Leben. Einem Leben, das in drei Zimmern, Küche, Bad einer beengenden Erdgeschosswohnung sein Zuhause hatte. Mausgrauer Teppichboden, Raufasertapete, niedrige Decken. Typischer Nach-Wende-Neubau, sagt Hans-Jürgen Heinicke. Er durchstöbert seit mehr als 30 Jahren fremde Hinterlassenschaften, das ist sein Job.
"Alles ist irgendwie geschniegelt und gebügelt. Eigentlich sehe ich auf den ersten Blick, dass hier eine Frau gewohnt hat. Männer sind da etwas schlampiger."
Eine Betriebsanleitung für Trabis im Bücherschrank lässt vermuten, dass die Frau im Osten Deutschlands groß geworden ist, mehrere Porzellanhunde und ein Hundeaufkleber am Fenster mit dem Schriftzug "Hier wohne ich" erinnern an einen kleinen weißen Terrier. Angebrochene Medikamente in einer Blisterpackung liegen auf dem Nachttisch, wahrscheinlich war sie altersbedingt krank. Ihre Söhne, Heinickes Auftraggebern, sind längst erwachsen, also muss die Dame ein langes Leben gehabt haben. Mehr weiß Heinicke nicht, und mehr kann er sich auch nicht zusammenreimen.
Er nimmt sich die Wohnzimmer-Schrankwand vor: auf Hochglanz poliert, kein Staub nirgends.
"Das ist Buche, gefäbrt, dunkel gebeizt, damit es aussieht wie Mahagoni – aber es ist, nun ja, nichts, was das Herz erquickt."

Kloß im Hals? Über das Stadium ist der Nachlassprofi hinweg

Im Klartext: die Schrankwand ist nichts wert. Heinicke – fein geschnittenes Gesicht, Lachfältchen um die Augen – sortiert nun stirnrunzelnd den Inhalt der Schrankwand: Videos von Familiengeburtstagen, CDs von den jungen Tenören bis Kuschelrock, das Kaffeegeschirr für bessere Anlässe. Die alten Dame hat es sorgsam in der Glasvitrine ausgestellt.
"Das ist Gebrauchsporzellan aus den 30er-Jahren. Kitsch und Kunst. Nichts dabei. So, das nächste..."
Heinicke betritt das Schlafzimmer. Das Bett ist ordentlich mit einer mit Schmetterlingen gemusterten Decke überspannt. Die Wand am Kopfende zieren Rosen auf der Tapete, auf der Ablage neben dem Bett liegt noch der Plastikdeckel eines Schokopuddings. Starb die alte Frau plötzlich? Hier etwa? Auf dem Kopfkissen thront ein abgeliebter Plüsch-Bär. Jetzt bildet sich unweigerlich ein Kloß im Hals – allerdings nicht bei Profis wie Heinicke. Der Nachlassverwerter, eigentlich ein feinsinniger Typ, ist über dieses Stadium längst hinweg.

"Die haben als Kind vielleicht damit gespielt"

"Nein, das ist vorbei, schon lange. Da geht’s ja oft um das Herzblut, persönliche Erinnerungen und sowas alles. Das kann ich nicht beurteilen. Der monetären Wert, den ich vielleicht sehe, den sehen die gar nicht. Die haben als Kind vielleicht damit gespielt, haben Erinnerungen daran. Das kann man gar nicht so sehen."
Porzellan aus dem Nachlass der Verstorbenen
Porzellan aus dem Nachlass der Verstorbenen© Deutschlandradio / Stephan Morgenstern
Für Heinicke gibt es zwei Arten von Wohnungen: Die, für deren Räumung er bezahlt wird. Und die, für deren Räumung ER zahlen muss, weil sie Wertvolles bergen – Möbel aus Nussholz zum Beispiel. Oder Korkenzieher in ausgefallenem Design – für die zahlen Sammler schon mal 1000 Euro.
"Für mich ist der Wert, was ein anderer bereit ist, dafür zu zahlen. Und die Realität ist für mich der Trödelmarkt."
Für diese Wohnung wird Heinicke bezahlt. Nicht immer ist er sich mit seinen Kunden darin sofort einig: Wer weiß, wie lange die Mutter auf die gute Schrankwand gespart hat, den trifft es, dass sie nichts mehr wert sein soll. Doch dies hier wird auf der Kippe landen und später im Heizwerk verfeuert, meint Heinicke. Wenn sich nicht Aleks erbarmt. Aleks ist Heinickes Wunderwaffe, er spart ihm Arbeit und Entsorgungskosten.

Ein Tagebuch als Zeitzeugnis - aber wer will es haben?

Ein roter Lieferwagen mit Stettiner Kennzeichen ist draußen vorgefahren. Ein bärtiger Pole Mitte 50 betritt die Wohnung, flankiert von zwei Helfern – einer jung, einer alt, beide wortkarg. Aleks und Heinicke schütteln sich herzlich-kräftig die Hände, sie arbeiten seit vielen Jahren zusammen.
Heinicke (l.) und Aleks mit Lampen in der Hand vor einem roten Lieferwagen
Heinicke (l.) und Aleks mit Lampen in der Hand vor einem roten Lieferwagen© Deutschlandradio / Stephan Morgenstern
Die Helfer zerlegen die Möbel in ihre Einzelteile.
Die Helfer zerlegen die Möbel in ihre Einzelteile.© Deutschlandradio / Stephan Morgenstern
Vor der Tür stapeln sich die Möbel der Verstorbenen.
Vor der Tür stapeln sich die Möbel der Verstorbenen.© Deutschlandradio / Stephan Morgenstern
Aleks fackelt nicht lange. Er schnappt sich Müllsäcke, Umzugs- und Bananenkisten. In den Müllsäcken landen: Der Puddingdeckel. Ausgelatschte Schuheinlagen.
Ein Tagebuch, in alter Schreibschrift geführt, in dem die alte Dame als Kriegskind 1942 ihre Mahlzeiten aufgelistet hatte, jeden Tag. Mittags Gemüseeintopf, abends Kartoffelklösschen. Ein Zeitzeugnis, eigentlich. Aber wer will es haben? Fast alles andere wandert in die Kisten, nimmt Aleks mit. Früher habe er nur mit Antiquitäten gehandelt, erzählt er, Aleks liebt schöne alte Möbel. Aber in Polenkönne man davon nicht leben. Stattdessen sammelt er jetzt:
"Alles, was ist billig. Billig. Billig. Wir sind nicht so reich."

Die Spuren verschwinden

Seine beiden Helfer geraten langsam ins Schwitzen – zack zack zerlegen sie die Möbel in ihre Einzelteile, stapeln die draußen im Hof vor dem Laster. In der Wohnung erinnern nur dunkle Ränder an sie. Heinicke hat mittlerweile alle Nägel aus den Wänden gehebelt. Die Spuren der alten Dame, sie schwinden. So schnell geht das.
"Am Schluss bleibt die nackte nackte Wohnung. Ja, das ist das Ziel. Nichts mehr da, nichts mehr zu sehen. Leer ist dann wirklich Abschied. Da ist nichts mehr da."
Blumenmuster und Bohrlöcher auf einer Tapete
Ein paar Spuren bleiben zunächst noch: Blumenmuster und Bohrlöcher auf einer Tapete© Deutschlandradio / Stephan Morgenstern